Dr. Elisabeth Mackscheidt

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Was Kindern hilft, wenn ihre Eltern sich trennen*

Elisabeth Mackscheidt


In verallgemeinernder Weise etwas zur Situation der Kinder, deren Eltern sich trennen, zu sagen, birgt eine doppelte Gefahr in sich: Zum einen liegt es nahe, vor allem auf die Schmerzen hinzuweisen, die eine solche Familienkrise für die Kinder mit sich bringt. Wir kennen vielfältige Reaktio­nen von Kindern auf Trennung und Scheidung. Da sind der ängstliche Rückzug oder die erhöhte Aggression mancher Kleinkinder; die Phantasie vor allem der Drei- bis Sechsjährigen, die Trennung selbst verursacht zu haben; die anhaltende Trauer der Sieben- oder Achtjährigen; manche Zukunftsängste und Schamgefühle der Neun- bis Zwölfjährigen bis hin zu dem heftigen Zorn der Pubertierenden - um nur einige typische Reaktio­nen zu nennen. Die Gefahr einer solchen Aufzählung sehe ich darin, daß dabei leicht vergessen wird, daß die Alternative zur Trennung für diese Kinder oft die ist, dauerhaft in ein äußerst spannungsreiches eheliches Konfliktfeld eingebunden zu sein. Vor allem aber darf man aus solchen, manchmal durchaus gravierenden Reaktionen nicht den voreiligen Schluß ziehen, daß Kinder aus geschiedenen Ehen gewissermaßen prinzipiell lang­fristig in ihrer Entwicklung behindert werden. Auch „Symptome" sind aktive Bewältigungsstrategien eines Kindes; sie sind zunächst ein Hinweis auf dessen kreative, produktive Kräfte, auf eine schwierige familiäre Situation zu antworten. Wenn jedoch die Umwelt einer Familie davon ausgehen würde, daß die Chancen dieser Kinder, gesunde, lebensfrohe Erwachse­ne zu werden, erheblich reduziert sind, so könnte gerade diese Einschät­zung selbst zu einer Zuschreibung werden, die die Entwicklung der Kinder dann allerdings in der Tat erschweren würde.

Genauso wenig hilfreich aber wäre es, die Probleme der Kinder zu baga­tellisieren. Allzu leicht sind die Kinder diejenigen, die bei dem ganzen Scheidungsvorgang aus dem Blick geraten, weil die Verarbeitung des Paar­konfliktes und die Identitätskrise, die die Trennung bei einem oder auch bei beiden Partnern auslösen kann, die Partner selbst viel Kraft kosten. Kon­struktiv ist es jedenfalls, die Frage zu stellen, wie das nähere und weitere Umfeld einer Familie, in der die Eheleute oder auch die in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammenlebenden Partner sich trennen, den Kin­dern bei der Verarbeitung der Trennung helfen kann.

Für menschliche Entwicklung überhaupt gilt, daß nicht die schmerzlichen Erlebnisse selbst es sind, die langfristig entwicklungshemmend wirken, sondern Situationen, die dazu führen, daß wir die Gefühle, die schmerzliche Erlebnisse bei uns auslösen, dauerhaft meinen verdrängen zu müssen. So ist schon viel gewonnen, wenn die Kinder in dieser Zeit Menschen be­gegnen, die es verstehen und aushalten, wenn sie sich traurig zurückzie­hen, aggressiv werden oder vorübergehend ein Verhalten zeigen, das ei­gentlich einer früheren Stufe ihrer Entwicklung entsprechen würde. Denn wirklich schwierig wird es für ein Kind erst dann, wenn seine Reaktionen selbst wieder Abwendung statt Zuwendung hervorrufen. Natürlich kann auch bei Kindern ein Gefühl der Erleichterung aufkommen, daß die fami­liäre Situation sich klärt. Dennoch: Die starke und manchmal auch plötzli­che Veränderung des Zusammenlebens bringt Trauer, Verunsicherung, Angst und Wut mit sich. Das stellt zunächst Anforderungen an das sich trennende Paar selbst. Doch jede stabile Beziehung, die wir als Verwand­te, Freunde, Nachbarn und auch im Leben der Pfarrgemeinde oder z.B. einer Familienbildungsstätte zu den Kindern in dieser Zeit aufrechterhal­ten, ist hilfreich für sie - insbesondere dann, wenn wir nicht nur Verständ­nis für die aktuelle Situation zeigen, sondern auch Signale geben, die den Kindern deutlich machen, daß wir sehr wohl Zutrauen zu ihrem weiteren Lebensweg haben und daß wir auch die Entwicklungschancen sehen, die für alle Familienmitglieder in der Bewältigung der Krise liegen.

Dazu gehört u.a., daß wir in unserer Katechese nicht ein Familienbild vor­aussetzen, das angesichts des heutigen Wandels der Familienstrukturen nur noch einem Teil der Kinder das Gefühl geben kann, in einer „normalen" Familie zu leben. Kinder brauchen ein Mindestmaß an Normalitätsgefühl im Blick auf ihre eigene Familie, um eine gesunde Identität innerhalb der Gesellschaft aufbauen zu können. In der Treffpunktarbeit oder bei Wochenendseminaren für Alleinerziehende konnte ich immer wieder die Erfahrung machen, wie entlastend allein schon das Erlebnis sein kann, unter lauter Kindern zu sein, deren Familie eine vergleichbare Struktur hat. Da Kinder nach einer Trennung vor allem den Wunsch haben, ihrer Beziehung zu beiden Eltern weiterhin Raum geben zu können, ist es in der Regel auch entlastend für die Kinder, wenn sie dabei mitbekommen, daß wir die außerhalb der Familie lebenden Väter oder Mütter in ihrer elterli­chen Funktion ernst nehmen. Als ein besonders deutliches Zeichen der Wertschätzung ihrer Familie empfinden Kinder es, wenn ihre alleinerzie­hende Mutter (ihr Vater) nicht nur in einer Gruppe Alleinerziehender die Kirche als Heimat erlebt, sondern der Mutter auch eine öffentliche Aufga­be in der Pfarrgemeinde übertragen wird, im Pfarrgemeinderat oder Kir­chenvorstand, als Lektorin oder Katechetin oder auch im Vorstand eines Verbandes. Auf die Mitarbeit ihrer geschiedenen Mitglieder kann eine Pfarr­gemeinde im übrigen ja schon um deren Kompetenz willen gar nicht ver­zichten.

Insgesamt dürfen wir davon ausgehen, daß die entscheidende Hilfe für die Kinder diejenige ist, die wir ihren Eltern zukommen lassen. Kinder fühlen sich nämlich immer - nicht nur im Trennungsfall - herausgefordert, Sorge zu übernehmen für ihre Eltern; das ist eine grundlegende Erfahrung der Familientherapie. Wenn Kinder die Trennung ihrer Eltern erleben, haben sie Angst um das Wohlergehen ihrer Eltern, insbesondere im Blick auf den Elternteil, den sie für den schutzbedürftigeren halten. Was Kinder sagen und tun, können wir gerade in Zeiten einer Familienkrise nur verstehen, wenn wir mitbedenken, daß Kinder bewußt und vor allem unbewußt ihren Eltern helfen möchten, und dies oft gerade auch mit ihrem „störenden" Verhalten. So kann z.B. ein besonders aggressives Verhalten eines Kin­des nach der Trennung seiner Eltern vielfältige Gründe haben: eine unmit­telbare Enttäuschungswut; eine Reaktion der Ohnmacht; ein Versuch viel­leicht, den abwesenden Elternteil, wenn das Kind ihn als aggressiv erlebt hat, in der Familie zu repräsentieren oder über eine gemeinsame Besorg­nis die Eltern wieder zusammenzuführen - um nur einige Möglichkeiten zu nennen; es kann aber auch dem Bedürfnis entspringen, so viel „trouble" zu machen, daß z.B. die Mutter, die noch sehr unter der Trennung leidet, gar keine Zeit hat, in Traurigkeit zu verfallen; daß möglicherweise der Vater selber ihr hilft oder Hilfe von außen mobilisiert wird. Andere Kinder wieder­um wenden sich ihrer Mutter oder ihrem Vater als tröstender, haltgebender Gesprächspartner zu; sie werden gewissermaßen zu Eltern ihrer Eltern - oft ist es eher dies, als daß sie ein eigentlicher „Partnerersatz" würden. Vielleicht fühlen sie sich sogar herausgefordert, die anstrengende Rolle des Schiedsrichters zu übernehmen, auch wenn sie selber dabei mit Schuld­gefühlen zurückbleiben.

Mit diesen Ausführungen möchte ich natürlich nicht zu einer schnellen Dia­gnostik von kindlichem Verhalten bei Trennung und Scheidung auffordern. Die Situationen nach Trennungen sind so vielfältig, wie Familienleben es überhaupt ist, und das, was Kinder nach einer Trennung fühlen und bewäl­tigen müssen, ist in hohem Maße von dem bestimmt, was sie vor der Tren­nung im Familienleben erfahren haben. Mein Hinweis auf die Sorge der Kinder um ihre Eltern, auf die Last, die Kinder sich auferlegen, wenn sie versuchen, für die ganze Familie die Krise zu bewältigen, soll vielmehr deutlich machen, daß man den Kindern in erster Linie dann hilft, wenn man ihren Eltern hilft. Das heißt konkret: Wenn wir in unseren Pfarrge­meinden das Thema „Scheidung" nicht tabuisieren, sondern Trauer nach Trennung mittragen; wenn wir die Isolierung Geschiedener nicht noch ver­stärken, sondern Geschiedene in allen pfarrlichen Gruppen und Gremien willkommen heißen und sie für die Zeit der Trennungsverarbeitung viel­leicht auch noch zu eigenen Treffpunkten einladen; wenn wir Verständnis für starke Gefühlsschwankungen nach einer Trennung haben, da oft gleich­zeitig Verlust und Befreiung empfunden werden; wenn wir die große Lei­stung alleinerziehender Mütter und Väter anerkennen und im Blick auf die außerhalb der Familie lebenden Väter (Mütter) die elterliche „Liebe aus
der Ferne" hochschätzen; wenn wir Eltern, die sich trennen, ermutigen, sich eine qualifizierte beraterische Plattform zu gönnen für die vielen Fra­gen, die gemeinsam zu regeln sind; und wenn wir nicht zuletzt, z.B. durch Unterstützung bei der Wohnungssuche oder durch Babysitterdienste, prakti­sche Hilfen anbieten - immer dann helfen wir sehr unmittelbar auch den Kindern.
Ich denke aber vor allem auch an die Notwendigkeit, in heilsamer Weise mit dem Thema „Schuld und Schuldgefühle" umzugehen. Für die Entwick­lung der Kinder ist von vorrangiger Bedeutung, ob Vater und Mutter es wagen können, sich als Subjekt ihrer Lebensgeschichte, auch ihrer Trennungsgeschichte, zu verstehen, so daß ihre Kräfte nicht in Selbst- oder Fremdanklage gebunden bleiben; ob sie es wagen können, sich dem Ende ihrer Paarbeziehung zu stellen, so daß sie dieses Ende zu betrauern vermögen und sich den Zukunftschancen ihrer Familie zuwenden; ob sie es also wagen können, die volle Verantwortung für die Trennung und für die Reorganisation der Familie nach der Trennung zu übernehmen, so daß die Kinder von dem Druck entlastet werden, selber Lösungen finden zu müssen. Es müßte doch uns Christen auszeichnen, daß für uns Schuld immer schon im Horizont von Versöhnung steht - daß wir einander ermög­lichen, Schuld in unser Bild von uns selbst zu integrieren. Die Erfahrung lehrt aber auch, daß gerade bei Partnerschaften, die als dauerhafte Le­bensgemeinschaften entworfen waren, Trennungen viel mit unbewußten Verstrickungen, mit Grenzsituationen zu tun haben, bei denen es nicht so sehr um die Frage moralischer Schuld geht, sondern um notwendig ge­wordene Entscheidungen und doch gleichzeitig um die Schwierigkeit, sich selber in diesem Vorgang als loyal zu erleben.

Loyalität meint die Verbundenheit der Familienmitglieder miteinander, die bewußte und vor allem auch unbewußte Übernahme der Verpflichtung, Sorge zu tragen für das Wohlergehen des anderen. Dabei geht die Rich­tung der Loyalität sowohl von den Eltern zu den Kindern als auch von den Kindern zu den Eltern. Wir Menschen sind fähig und bereit, in dem Zusam­menhang, in dem wir aufwachsen, existentielle Bindungen einzugehen, Sorge füreinander zu übernehmen. In der unbewußten Dynamik wirken offenbar besonders stark die Loyalitätsbindungen zwischen den Genera­tionen; doch auch zur Übernahme neuer Loyalitäten - nicht zuletzt in Part­nerschaften - sind wir fähig und bereit. Theologisch gesehen ist dies alles nicht überraschend. Der Mensch ist als Geschöpf und Ebenbild Gottes und, wie wir Christen glauben, als jemand, der immer schon vom Heils­willen Gottes umfangen ist, im Kern gerade nicht ein mörderisch-egoisti­sches Wesen, sondern zutiefst auf Liebe und Solidarität hin angelegt. Familientherapeuten würden sagen: Wir haben ein nahezu unzerstörba­res Bedürfnis, uns loyal zu verhalten. Oft allerdings machen wir dabei merkwürdige und in der Tat auch destruktive Dinge, zum Schaden der ei­genen Person und anderer Menschen. Vielleicht liegt eher darin die Be­grenztheit, Gefährdung und Gefährlichkeit unserer irdischen Existenz.

Was aber macht es Menschen so schwer, sich in einem Trennungsprozeß persönlich als loyal zu erleben? Was hindert sie daran, sich ein gutes Selbst­wertgefühl zu erhalten oder dahin zurückzufinden? Was erschwert es ih­nen, sich als Subjekt ihrer Scheidungsgeschichte zu verstehen und ihre elterliche Kompetenz, die gerade in einer solchen Phase familiärer Um­strukturierung so sehr angefordert ist, voll ins Spiel zu bringen?


Loyalität zwischen Eltern und Kindern

Zunächst ist da bei nahezu allen Eltern, die sich trennen, der tiefe Zweifel, ob sie sich ihren Kindern gegenüber loyal verhalten - oder schlichter ge­sagt: ob sie trotz der Trennung gute Eltern sind. Gerade die Schuldgefühle den Kindern gegenüber sind es oft, die Eltern daran hindern, wirklich hin­zuschauen, wie es denn den Kindern in der Familienkrise geht, die Reak­tionen ihrer Kinder realistisch einzuschätzen und nach adäquaten Antwor­ten zu suchen. Ob Eltern das Thema „Kinder" eher verdrängen oder ob sie die Kinder zur machtvollen Schaltstelle des familiären Geschehens wer­den lassen - beides ist sehr anstrengend für die Kinder. Kinder brauchen Eltern, die Vertrauen in ihre eigene elterliche Kompetenz haben. Nun kön­nen Eltern aber sich selbst diese Kompetenz eher zutrauen, vielleicht so­gar nur dann zutrauen, wenn auch das Umfeld sie ihnen zutraut. Deshalb müssen wir uns kirchlicherseits fragen, ob wir uns nicht manchmal kontra­produktiv verhalten. Sind wir nicht geneigt, die Scheidung als einen End­punkt anzusehen, als eine Katastrophe, von der Menschen sich im Grun­de nicht mehr erholen, weil sie sozusagen etwas, was im Himmel beschlossen wurde, auf Erden nicht eingelöst haben - ein nie endendes Defizit?!

Es ist einfühlbar, daß eher ein besonders gutes mütterliches oder väterli­ches Selbstbewußtsein dazu gehört, die Reaktionen des eigenen Kindes auf die Trennung wahrzunehmen, um dann auch angemessen handeln zu können. Einem Kind muß und kann in dieser Situation nicht so geholfen werden, daß es keine Reaktionen zeigt, sondern nur so, daß es seine Reaktionen haben darf. Diese selbst sind ja ein Hinweis auf die Lebendig­keit des Kindes. Und das Bemühen des Kindes, für seine Eltern die Situa­tion zu retten, womit ein Kind sich immer auch überfordert, ist kein patho­logischer Vorgang, sondern ein Zeichen für die Fähigkeit des Kindes, Bindungen einzugehen, loyal zu sein, sich kreativ etwas einfallen zu las­sen für seine Familie. Es geht nur darum, daß das Kind schrittweise von diesem Druck befreit wird, indem es zunehmend erfährt, daß die Eltern selber die Bewältigung ihrer Situation in die Hand nehmen.

Für denjenigen Elternteil, der nicht mit dem Kind zusammenlebt, ist es erfahrungsgemäß besonders schwierig, sich als guter Vater oder, erst recht, als gute Mutter einzuschätzen - so als könne es nicht eine verantwortliche, von der Liebe zum Kind getragene Entscheidung sein, dem Kind vorrangig die Nähe zum anderen Elternteil zu lassen. Zwar gibt es zweifellos Väter - meistens leben die Kinder ja bei der Mutter, so daß ich hier vor allem auf die Väter eingehen möchte -, die überhaupt erst nach der Trennung so richtig entdecken, wie sie eine gute Beziehung zu ihrem Kind aufbauen können; doch in vielen Fällen geht der Kontakt stark zurück oder wird gar abgebrochen. Ein Grund - sicherlich nicht der einzige - dafür ist, daß es offenbar besonders schwer ist, sich aus dieser Position heraus als ein Va­ter zu erleben, der die Loyalität seinem Kind gegenüber gewahrt hat. Wie immer es zur Trennung gekommen ist, das Ergebnis ist für diese Väter wie für ihre Kinder, daß die täglichen oder doch jedenfalls ganz häufigen Be­gegnungen zu Ende sind. Das erzeugt Schuldgefühle, für die andererseits weniger Chancen da sind, sie im Zusammensein mit den Kindern gewis­sermaßen abzuarbeiten. Darin liegt im übrigen auch eines der Motive für die oft beklagte Überschüttung mit Geschenken. Unterschätzen sollte man allerdings ebenfalls nicht, daß der Entzug des Sorgerechts auch da, wo ein Vater dem nicht widersprochen hat, häufig von ihm nicht nur als nach­haltige Kränkung erlebt wird, sondern ihn auch zweifeln läßt, ob er sich als guter Vater erwiesen hat. Mancher Vater geht davon aus, es seinem Kind schuldig zu sein, um das Sorgerecht zu kämpfen. Es wäre also zu kurz gegriffen, einen Kampf um das Sorgerecht ausschließlich unter dem Ge­sichtspunkt der Fortsetzung des Partnerkonflikts zu betrachten.

Aber auch die Kinder selbst möchten sich ihren Eltern gegenüber loyal verhalten - und hier liegt wohl das eigentliche Problem; denn entschei­dend dafür ist, inwieweit es beiden Eltern gelingt, trotz möglicher Partner­konflikte den jeweils anderen Elternteil in seiner väterlichen bzw. mütterli­chen Funktion zu respektieren. Kinder fühlen sich zerrissen, wenn sie den Eindruck gewinnen, daß es sich nicht verträgt, Vater und Mutter zu lieben; wenn sie in sich selbst eine Spaltung vollziehen müssen zwischen der Welt des Vaters und allem, was diese für ihre eigene Identität bedeutet, und der Welt der Mutter. Nicht, daß diese beiden Welten verschieden sind und in gewissem Ausmaß auch unterschiedliche Regeln in ihnen gelten, ist das Problem der Kinder, sondern die Erfahrung einer gegenseitigen Entwertung dieser Welten. Wenn Kinder sich manchmal deutlich auf eine Seite schlagen, so geht das nicht ohne Schuldgefühle; es ist immer nur eine Notlösung für das Kind, eine Sichtweise, die ihm im Moment als die hilfreichste erscheinen mag.

Die Beziehung zwischen dem eigenen Kind und dem jeweils anderen El­ternteil zu fördern, ist in den Jahren akuter Trennungsverarbeitung oft schwer. Ich finde, daß viel zu wenig die Rede davon ist, wieviel elterliche Liebe täglich in den Versuch investiert wird, von der eigenen Kränkung abzusehen und dem Kind einen guten Kontakt zum ehemaligen Partner oder zur ehemaligen Partnerin zu ermöglichen, und dies, obwohl man viel­leicht befürchtet, daß das, was einem am anderen so störend erscheint, sich auch negativ auf das Kind auswirken könnte. Es ist hilfreich, wenn Eltern, die sich trennen, sich bewußtmachen, daß ausschlaggebend für die Entwicklung eines Kindes - wenn ich es einmal überspitzt ausdrücke - gar nicht so sehr die Frage ist, ob und vor allem wie die Eltern ihr Kind geliebt haben, sondern, ob das Kind in jeder Stufe seiner Entwicklung die Möglichkeit hatte, seine Eltern zu lieben. Natürlich läßt sich das nicht ein­fach voneinander trennen; ich möchte damit vielmehr zum Ausdruck brin­gen, daß elterliche Liebe vor allem darin besteht, sich zur Verfügung zu stellen für die Liebe des Kindes, für die ganze Palette seiner Gefühle, sei­ne Identifikations- und Abgrenzungswünsche und auch für die Loyalitäts­beweise, die ein Kind beiden Eltern geben möchte. Daß die Kontakte zum außerhalb der Familie lebenden Elternteil u.U. anstrengend sind für alle Familienmitglieder, ist im allgemeinen kein Gegenargument, sondern ein Hinweis darauf, daß die Gefühle, die die Trennung auslöst, auch ihren Aus­druck finden. Zum Glück lehrt ja die Erfahrung, daß belastende Gefühle, die gefühlt werden durften und die von der nahen Umwelt verstanden wur­den, sich abmildern oder vorübergehen. Und die Erfahrung lehrt auch, daß gerade diese Kontakte auf Dauer allen Familienmitgliedern zugute kommen.

Die bewußte und vor allem unbewußte Sorge von Kindern aus geschiede­ner Ehe, es möge beiden Eltern wieder gut gehen, sollte auch bei der Dis­kussion einer Pastoral für wiederverheiratete Geschiedene Berücksichti­gung finden. Für die Entwicklung aller Kinder - ob ihre Eltern zusammenbleiben oder sich trennen - ist von hoher Bedeutung, ob die Eltern zu einer befriedigenden, erfüllten Form erwachsenen Lebens fin­den; denn dies ermöglicht den Kindern, sich ihrer eigenen Entwicklung zuzuwenden. Nun gibt es selbstverständlich viele Formen, als Frau oder Mann in unserer Gesellschaft sein Leben sinnerfüllt zu gestalten. Auch unabhängig von Fragen christlichen Glaubens wäre die Reduktion dieser Formen auf partnerschaftlich-sexuell gelebte Zweierbeziehung eine Ver­armung unserer Beziehungskultur. Und wenn Geschiedene in tiefer Iden­tifizierung mit Normen der katholischen Kirche und vielleicht aufgrund sehr persönlicher religiöser Entscheidung sich der Aufnahme einer neuen Part­nerschaft enthalten, so ist dies ein Beziehungsgeschehen, das den Kin­dern als eine authentische erwachsene Lebensgestalt erfahrbar werden kann. Wir dürfen aber auch nicht darüber hinwegsehen, daß für sehr viele Menschen die Hoffnung auf ein Gelingen ihres Lebens sich mit der Hoff­nung auf eine gute Partnerschaft verknüpft. Für die Kinder ist jedenfalls wichtig, daß sie sich nicht herausgefordert fühlen müssen, gewisserma­ßen ein Ersatzthema abzugeben, und daß sie, falls ihr Vater oder ihre Mutter sich für eine Zweitehe entscheidet, nicht das Gefühl - das Selbstwertge­fühl - verlieren müssen, eine gute Familie zu haben.


Loyalitätsbindungen zur Herkunftsfamilie

Eine größere Rolle, als gemeinhin thematisiert wird, spielt m.E. im Zusam­menhang von Trennung und Scheidung die Frage der Loyalität gegenüber der älteren Generation. Eltern sind ja wiederum Kinder von Eltern. Sie möchten die Aufträge, die ihre Eltern ihnen mitgegeben haben, erfüllen. Und welche Eltern wünschten nicht ihren Kindern eine glückliche, dauer­hafte Ehe - was allerdings keineswegs ausschließt, daß ein Elternteil be­wußt oder unbewußt zum Scheitern der konkret gelebten Ehe der Tochter oder des Sohnes beigetragen hat. Jedenfalls sind Ehepaare, die sich tren­nen, oft in der Situation, ihre eigenen Eltern - die vielleicht noch leben oder die in ihnen weiterleben - schwer enttäuscht zu haben. Ein nicht unerheb­licher Teil der depressiven Reaktionen auf Trennung und Scheidung hängt mit diesem Gefühl zusammen, sich den eigenen Eltern gegenüber nicht loyal verhalten zu haben. Die Selbstvorwürfe und Wiedergutmachungs­bemühungen werden dabei um so einengender erlebt, als die äußere Le­benssituation nach einer Trennung häufig eine stärkere Einbindung in die Herkunftsfamilie nahelegt.

Angesichts der Individualisierung und Privatisierung von Partnerschaft und Ehe könnte man meinen, daß im Familienverband die Frage der Gestal­tung der Partnerschaften ein Bereich sei, der nur der jeweiligen Generati­on selbst überantwortet ist. In der Tat erwartet unsere Gesellschaft schon vom jungen Erwachsenen ein hohes Maß an Autonomie auf diesem Ge­biet. Diese Erwartung steht in einem Spannungsverhältnis zu dem Ge­wicht, das die berufliche und private „Karriere" der erwachsenen Kinder für viele Paare hat. Daß die Kinder häufig gewissermaßen das „Dritte" werden, das Thema, über das die Paarbeziehung der Eltern gelebt wird, ist eine der Konsequenzen, die sich für das Verhältnis der Generationen zueinander aus dem hohen Grad der Ausdifferenzierung unserer Gesell­schaft ergeben hat. Zu allen Zeiten haben Kinder versucht, ihre Eltern zu unterstützen. Lange Zeit taten sie es durch ihre Arbeitskraft; oft waren sie die einzige Altersversicherung. Heute versuchen Kinder, zum emotionalen Gleichgewicht ihrer Eltern beizutragen, zur Regelung von Nähe und Di­stanz in der Ehe ihrer Eltern; denn schon die Generation der heute Fünf­zig- bis Sechzigjährigen konnte und kann sich nicht dem Anspruch entzie­hen, ihr Zusammenbleiben über die aktuell gelebte Liebe zu legitimieren, wobei allerdings gerade die Privatisierung von Ehe ihnen einen großen Spielraum läßt, sehr persönlich zu definieren, was sie unter Liebe verste­hen. Häufig gibt es nur noch ein Kind in der jungen Generation, so daß dieses allein - bewußt oder unbewußt - die Sorge für das Wohlergehen der Eltern auf seine Schultern nimmt.

Daß Eltern sich in unserer Zeit oft sehr stark auf ihre Kinder konzentrieren und umgekehrt die Kinder sich aus Loyalität zu ihren Eltern als Thema zur Verfügung stellen, führt insgesamt zu einer engen seelischen Verflochten­heit der Generationen einer Familie miteinander. Die gesellschaftlich er­wartete Ablösung der jungen Erwachsenen aus ihrer Herkunftsfamilie ist daher ein Vorgang, der keineswegs so selbstverständlich glückt, wie die - vielleicht beklagten, vielleicht bewunderten - „eigenen Wege", die schon Jugendliche gehen, vermuten lassen. Nicht umsonst beschäftigt sich die Familientherapie in Forschung und Praxis viel mit dieser Phase im Familien­zyklus.

Im Prozeß der Ablösung bedeutet das Eingehen einer Partnerschaft einen wichtigen Schritt. Dabei wird u.U. gerade ein Partner (eine Partnerin) ge­wählt, der die Aufträge der Herkunftsfamilie nicht übernimmt, sondern kor­rigiert, so daß er bei der Distanznahme gegenüber der Herkunftsfamilie Hilfe leistet. Die Paarbegegnungen selbst sind ja so individualisiert, daß die jeweiligen Eltern sich oft überhaupt erst im Zusammenhang mit der Hochzeit kennenlernen; eine Übereinstimmung in den Familienstilen wird nicht mehr vorausgesetzt. Das heißt aber keineswegs, daß die Erwartun­gen der eigenen Eltern an den Lebensentwurf keine große Rolle mehr spielten. Oft ist es im Gegenteil so, daß das, was zu Beginn der Beziehung das Faszinierende ausmachte, weil es der eigenen Verselbständigung zu­gute kam, im Laufe der Ehe als Trennendes erlebt wird; denn in der unbe­wußten Dynamik sind die Loyalitäten in der direkten Abfolge der Genera­tionen - also von den Großeltern zu den Eltern, zu den Kindern und umgekehrt von den Kindern zu den Eltern, zu den Großeltern - die wirksa­meren im Vergleich zu den neuen Loyalitäten, die wir in Partnerschaften und Freundschaften eingehen. Das hat zur Folge, daß die unterschiedli­chen Vorstellungen davon, was gut oder nicht gut ist, über die Paare sich heute verständigen müssen, nicht immer zu einer wachstumsfördernden gegenseitigen Ergänzung führen, sondern u.U. zu Gegensätzen, die als unüberbrückbar erlebt werden, so daß es zur Trennung kommt. Natürlich ist damit nur einer der Gründe für heutige Trennungsprozesse beschrieben; doch es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, daß auch diejenigen Paare, die im Grunde aus Loyalität zu ihren Herkunftsfamilien und deren Wertvorstellungen sich scheiden lassen, diese Scheidung subjektiv eher als Verrat an den eigenen Eltern erleben. Belastend ist das Bewußtsein, aufgrund der Scheidung einen wichtigen Auftrag der eigenen Vorfahren nicht erfüllt zu haben, insbesondere bei Menschen, die in einem katholi­schen Milieu aufgewachsen sind, weil die Normabweichung dort so ekla­tant ist.

Viele Geschiedene wählen in solchen Situationen den konstruktiven Weg, die Trennung vom Partner als Herausforderung zu nehmen, das Verhältnis zur Herkunftsfamilie neu zu überdenken, vielleicht alte Trennungsschritte nachzuholen - manchmal mit professioneller Hilfe. Sie machen die Erfah­rung, daß es möglich ist, eigene Wege zu gehen und dennoch seine Eltern zu lieben. Das entlastet im übrigen nicht nur sie selbst, sondern ihr ver­söhnlicher Blick auf die Beziehung zu den eigenen Eltern ist auch eine gute Basis, wiederum die Kinder zu verstehen.

Nun läßt sich die innere Auseinandersetzung mit Normen der katholischen Kirche selbstverständlich nicht auf ein Generationenproblem reduzieren. Dennoch dürfen wir nicht darüber hinwegsehen, daß gerade die Großeltern­generation, also die Generation der „jungen Alten", von theologischer Sei­te Hilfestellung braucht, um selber differenziert mit der Erfahrung umge­hen zu können, daß die Ehen ihrer erwachsenen Töchter und Söhne nicht mehr die Stabilität aufweisen, die die eigene Ehe wahrscheinlich noch hat. Dazu würde zum einen gehören, nach Anknüpfungspunkten zu suchen, die wir in unserer eigenen christlichen Tradition haben, versöhnlich damit umzugehen, daß unsere ursprünglichen Lebensentwürfe nicht immer glücken, daß wir u.U. auch wichtige Entscheidungen in unserem Leben einer Revision unterziehen. Wir haben ja eine große Tradition im Thematisieren von Scheitern und Neuanfang, von der Akzeptanz einer Begrenztheit und dem Mut zu Weg und Umweg; wissen wir doch, daß wir die Vision Jesu vom Reich Gottes nie ganz einlösen. Dazu würde m.E. aber ebenfalls gehören, daß wir in unserer Kirche vermeiden, auch das als individuelles Versagen anzusehen, was in Wirklichkeit ein strukturelles Problem ist. Es ist unsere gemeinsame gesellschaftliche Situation - und Verantwortung -, daß Ehe dauerhaft zu leben, heute schwieriger geworden ist, und wir dür­fen dies nicht einfach denen anlasten, die unmittelbar betroffen sind. Die jungen Erwachsenen sollten spüren, daß die ältere Generation anerkennt, welches Wagnis sie eingehen, wenn sie sich unter den heutigen gesell­schaftlichen Bedingungen zur Ehe entschließen; und sie sollten darauf vertrauen können, daß sie die Solidarität der älteren Generation erfahren werden, wenn ihre eheliche Beziehung trotz aller Hoffnung auf eine dauer­hafte Partnerschaft zu Ende gehen sollte. Um die große psychische Lei­stung einer Elternschaft nach Trennung erbringen zu können, dafür jeden­falls ist es außerordentlich hilfreich, wenn die eigenen Eltern signalisieren, daß sie nach wie vor Zutrauen in die Liebesfähigkeit und in das Verantwor­tungsbewußtsein ihrer geschiedenen Tochter oder ihres geschiedenen Soh­nes haben, und wenn ihre Freude an der Entwicklung der Enkelkinder nicht plötzlich düstersten Befürchtungen weicht.

In familientherapeutischen Gesprächen hat sich immer wieder gezeigt, daß nicht nur die blanken Fakten verantwortlich dafür sind, ob Menschen ihr familiäres Leben als entwicklungsförderlich erfahren, sondern vor allem auch die Bedeutungen, die ein Familienverband den Erlebnissen gibt. Als sinnstiftende Institutionen haben die Kirchen eine große Verantwortung, den Menschen einen Interpretationsrahmen für ihre familiären Erfahrungen anzubieten, der auch angesichts des heutigen Wandels von Familien­strukturen einen loyalen Umgang der Generationen miteinander und eine gute Elternschaft lebbar macht. Sie werden dabei der Tatsache Rechnung tragen müssen, daß die Menschen in unserer Kultur sich zunehmend her­ausgefordert sehen, für eine glückbringende Gestaltung von Sexualität, Partnerschaft und Ehe Eigenverantwortung zu übernehmen, und daß dies sie unter neue ethische Anforderungen stellt.


Loyalitätsproblematik im Verhältnis zum ehemaligen Partner

Das Ende einer Beziehung zwischen Partnern verläuft häufig höchst konflikt­haft, mit vielen gegenseitigen Kränkungen und Entwertungen. Gerade Menschen, die sich sehr geliebt haben, machen oft diese schmerzliche Erfahrung. Auch dies ist einer der Gründe dafür, warum es so schwer ist, sich trotz einer Trennung als loyal zu erleben. Viele Partner nehmen mit Bestürzung wahr, daß vor und bei der Trennung der andere und auch sie selbst sich in einer Weise verhalten, die der Geschichte ihrer Beziehung nicht mehr zu entsprechen scheint. Da wäre es wichtig, daß beide Partner verstehen lernen - zumindest auf Dauer verstehen lernen, denn in der aku­ten Phase geht das wohl schwer -, daß diese Aggression auch ein Versuch ist, sich selbst und dem anderen die Trennung überhaupt zu ermöglichen, wenn denn nun schon die Hoffnung auf eine positive Entwicklung der Be­ziehung endgültig verlorengegangen ist. Gerade derjenige, der den akti­ven Part bei der Beendigung der Beziehung übernommen hat, wird es oft gar nicht aushalten, den anderen gewissermaßen als schmerzvoll Lieben­den zurückzulassen; er wird sich vielmehr im Zweifelsfall so schlimm be­nehmen, daß der andere sich schließlich mit Aggression abgrenzt. Jeder hat die Phantasie, der andere werde Wut leichter überleben als blanke Trauer. Nur ist es sehr schwer, die negativen Zuschreibungen, die man in dieser Phase bekommen hat, nicht in sein Selbstbild aufzunehmen; und andererseits lassen die negativen Zuschreibungen, die man dem anderen gegeben hat, einen an der eigenen Fähigkeit zur Loyalität zweifeln.

Die Situation verschärft sich dann u.U. noch dadurch, daß in der juristi­schen Auseinandersetzung die gegenseitigen Aggressionen, die in der Paardynamik des Sich-Trennens ihre Funktion haben, buchstäblich fest­geschrieben werden - in Schriftsätzen nämlich - und dadurch die destruk­tiven Momente möglicherweise die bestimmenden werden. Deshalb wäre es wichtig, daß auch von juristischer Seite die Trennung eines Paares als ein prozeßhaftes und ambivalentes Geschehen verstanden wird. In die­sem Vorgang kann es äußerst hilfreich sein und ist es häufig geradezu unerläßlich, daß beide Partner von kompetenter Seite über ihre Rechte und Pflichten informiert werden; denn gerade weil die Paardynamik bei Trennung so ambivalent ist, gerade weil Aggressionen und Schuldgefühle so nahe beieinander liegen, ist alles, was mithilft, eine Lösung für die not­wendig gewordenen Regelungen zu finden, die als gerecht empfunden werden kann, von großer Bedeutung. Familienmitglieder haben im allge­meinen feine Antennen dafür, was „gerecht" sein könnte; und oft wird noch in der zweiten oder dritten Generation versucht, „Ungerechtigkeiten" aus­zugleichen, was dann häufig zu neuen Ungerechtigkeiten und Verletzun­gen führt. Ziel müßte sein, daß beide Partner das Bewußtsein behalten oder wiedergewinnen, sich dem ehemaligen Partner gegenüber letztlich loyal verhalten zu haben. Gesiegt zu haben, ist keine Kategorie, die in Familiensachen weiterhilft - auch nicht dem Sieger.
Für die notwendige Kooperation eines Elternpaares in der Nachscheidungs­phase ist es unumgänglich, zu einem guten Abschied auf der Paarebene zu kommen. Obwohl wir angesichts der Komplexität heutiger Familien­strukturen gewiß auch lernen müssen, zwischen Paarebene und Elternebene zu unterscheiden, so gibt es doch faktisch immer eine Verbindung zwischen diesen beiden Ebenen. Ein Paar, dem es gelingt, der juristischen Trennung auch die emotionale folgen zu lassen, wird eher zu konstruktiven Formen der elterlichen Zusammenarbeit kommen können, wobei die Trauerarbeit allerdings oft eines längeren Zeitraums bedarf. In der Pastoral - ich möchte diesen Begriff hier ganz weit fassen - haben wir m.E. gro­ße Möglichkeiten, Menschen bei diesem Abschiednehmen zur Seite zu stehen. Verabschieden kann sich am ehesten der, der im Blick zurück auf die Beziehung die gelebte Liebe wieder schätzen kann; der betrauern - vielleicht auch bereuen - kann, was er schuldig geblieben ist, und dem diese Trauer selbst als Spur seiner Liebe deutlich wird; der Enttäuschung, Wut und vielleicht auch Haßgefühle nicht verdrängen muß und doch nicht die Phantasie entwickeln muß, als könne eine eheliche Beziehung, die zu Ende gegangen ist, nie eine gute Ehe gewesen sein; der zutiefst spürt, daß beim Auseinandergehen keiner die Liebesfähigkeit des anderen ge­wissermaßen mitweggenommen hat. Selbst erwachsen gewordene Kin­der leiden im übrigen noch darunter, wenn ihre Eltern, falls sie sich in spä­teren Ehejahren trennen, meinen, sie müßten die frühen Jahre ihres Familienlebens nachträglich entwerten. Wenn es auch sehr schmerzlich ist für Kinder, zu erfahren, daß ihre Eltern sich nicht mehr lieben, so be­deutet es ihnen doch schon viel, aus deren Liebe hervorgegangen zu sein.

Für viele Paare wäre es hilfreich, wenn es rituelle Formen gäbe, die ihnen erleichtern würden, sich so zu verabschieden, daß die zurückliegende gemeinsame Zeit in den Entwurf von der eigenen Lebensgeschichte inte­griert werden kann. Dazu würde auch gehören, dem anderen noch einmal danken zu können. Mir scheint, die große Erfahrung, die wir insbesondere als katholische Kirche darin haben, Lebensprozesse mit Riten zu beglei­ten und den Menschen dadurch zu helfen, gerade die existentiellen Ereig­nisse in ihrem Leben unter den Heilszuspruch Gottes zu stellen, haben wir im Zusammenhang von Trennung und Scheidung noch zu wenig genutzt.
Ich denke, es wäre eine juridische Verkürzung unseres Verständnisses vom Sakrament der Ehe, wenn Menschen meinen würden, der Heilszuspruch Gottes, den die Kirche im Ehesakrament in besonderer Weise den Lieben­den sichtbar macht, ende da, wo eine Krise nicht durch Wachstum der Beziehung bewältigt wird, sondern zur Trennung führt - so als wäre Gott den Menschen gerade in dieser schweren Zeit nicht ganz nahe; als gelte der Segen, den wir bei der Hochzeit über zukünftige Eltern aussprechen, nicht auch für den mühsamen Weg einer Elternschaft nach Trennung.


Schlussbemerkung

Die Erkenntnisse der Familienforschung und Familientherapie, die uns viele Einsichten in die Loyalitätsstrukturen von Familien gebracht haben, kann und sollte die Pastoral in erster Linie für die Ehevorbereitung und Ehe­begleitung nutzen. Gerade angesichts der Individualisierung heutiger Part­nerwahl und Partnerbeziehung kann es außerordentlich hilfreich sein, wenn Partner ein Verständnis für die Loyalitäten entwickeln, die der jeweils an­dere zu wahren bemüht ist. Oft ist ja das, was ein Partner am anderen als störend erlebt und ihn an seiner eigenen Liebe zweifeln läßt, für den ande­ren gerade etwas besonders Kostbares seiner Identität, weil er damit ei­nen alten Auftrag zu erfüllen versucht. Dies gegenseitig zu verstehen und anzuerkennen, kann eine große Entlastung in konflikthafte Situationen brin­gen und zum Wachstum der ehelichen Beziehung beitragen. Kinder wer­den von solchen Verständigungsprozessen ihrer Eltern und von der dar­aus möglicherweise erwachsenden Stabilität der Ehe ihrer Eltern sehr profitieren. Wer viel mit Eltern zusammen ist, die sich haben scheiden las­sen, weiß, daß auch diejenigen, die ihr Leben nicht aus dem christlichen Glauben heraus interpretieren, meist nicht für eine Beliebigkeit der Familien­strukturen plädieren, auch wenn sie für sich selbst keinen anderen Weg als die Trennung sahen.

Darüber hinaus kann das Wissen über familiäre Dynamik dazu beitragen, die pastorale Begleitung von Paaren, die sich trennen, weiterzuentwickeln; eine heilsame Pastoral ist besonders notwendig im Blick auf Partner, die gemeinsam Kinder haben. Aber auch einer Pastoral mit wiederverheirate­ten Geschiedenen könnten solche Einsichten zugute kommen. Ich per­sönlich bin überzeugt: Je stärker diejenigen, die die Hauptverantwortung für die orientierenden Vorgaben innerhalb der katholischen Kirche haben, sich mit ihrer Wahrnehmung und mit ihrem Verstehen auf die Realität heu­tiger Trennungsprozesse einlassen, desto eher werden ihnen auch Kräfte zuwachsen, gemeinsam mit allen Gläubigen gute Antworten auf die noch ungelösten Fragen der Pastoral mit wiederverheirateten Geschiedenen zu finden. Die Lebens- und Glaubenserfahrungen der Geschiedenen und der wiederverheirateten Geschiedenen selbst sind dabei eine unverzichtbare Hilfe.

* Überarbeitete Fassung des Artikels „Was Kindern hilft, wenn ihre Eltern sich trennen. Eine Herausforderung für die Pastoral", in: Pastoralblatt 11/1993, S. 333 - 343.



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