Dr. Elisabeth Mackscheidt
Elisabeth Mackscheidt
Der
Blick zurück allein genügt nicht
Zum
systemischen Umgang mit familiengeschichtlichem Material in der Supervision
Es wird die Frage erörtert, inwieweit es im
Rahmen einer Supervision angebracht sein kann, Deutungen familiärer
Vorerfahrungen anzubieten. Neben einer Berücksichtigung des Settings und der
jeweiligen Auftragslage wird die Beantwortung dieser Frage vor allem von der Art der Deutungen
abhängig gemacht. An einem Fallbeispiel wird demonstriert, inwiefern ein
ressourcenorientierter, systemischer Blick auf die Familiengeschichte dem Ziel
eines Supervisionsprozesses dienlich sein kann.
Macht es Sinn, innerhalb eines Supervisionsprozesses die Verhaltensmuster, die Supervisandlnnen in ihrem beruflichen Kontext zeigen, in Zusammenhang zu bringen mit frühen Interaktionsmustern, die diese schon als Kind, aus welchem Grund auch immer, in ihrer Familie "gelernt" haben? Diese Frage läßt sich wohl nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten.
Da gilt es zunächst, auf denSupervisionskontrakt zu achten, der zweifellos kein Kontrakt über einen Selbsterfahrungsprozeß im allgemeinen Sinne oder gar über einen therapeutischen Prozeß ist. Es geht um die Reflexion beruflichen Handelns mit dem Ziel einer Zunahme an beruflicher Handlungskompetenz. So steht bei biographischer Arbeit im Rahmen einer Supervision der Teil der Lebensgeschichte im Vordergrund, der sich auf Erfahrungen bezieht, die im Beruf, in der Ausbildung und möglicherweise auch schon in der Schule gemacht wurden (1). Daß für die Frage, wie eine Supervisandln ihre beruflichen Erfahrungen interpretiert und ihr berufliches Handeln steuert, auch ihre familiäre Geschichte eine Rolle spielt, rechtfertigt m.E. noch nicht von vorneherein, diese Geschichte selbst zum Thema zu machen. Gewiß kann schon die bloße Frage, ob der Supervisandln ähnliche Konstellationen, Reaktionen etc. vertraut sind, zum Auftauchen früher Szenen führen - zumal wenn die Arbeitsbeziehung zwischen Supervisandln und Supervisorin eine sehr vertrauensvolle geworden ist; und manchmal bedarf es nicht einmal einer solchen Frage, um Erinnerungen an - oft leidvolle - Erfahrungen aus Kindheit und Jugend dargeboten zu bekommen (2). Deutende Interventionen von selten
der Supervisorin würden nach meinem Verständnis aber immer einer Art
Zwischenkontraktes, einer Rückversicherung darüber bedürfen, dass die
Supervisandln diesen Exkurs in die familiäre Vorgeschichte auch wirklich wünscht.
Es wird die Aufgabe der Supervisorin sein, dabei den Charakter des Exkurses zu
wahren, d.h. nicht aus den Augen zu verlieren, sondern rechtzeitig zu
thematisieren, welcher Lernertrag dieser Rückblick für das berufliche Handeln
haben könnte. Sie mag sich dabei der systemischen Einsicht bewusst sein, daß
nicht nur Supervisorinnen für ihre Supervisandlnnen sorgen, sondern auch
Supervisandlnnen für ihre Supervisorinnen - daß es also durchaus eine wechselseitige
Verführung zur Umstrukturierung von Supervision in Selbsterfahrung oder
Therapie geben kann.
Entscheidender noch als die Frage, ob eine
Deutung familiengeschichtlichen Materials angebracht ist, erscheint mir die
Frage, welche Art von Deutungen für die Zunahme beruflicher Kompetenz
hilfreich und unter den Bedingungen eines Supervisionsprozesses angemessen sein
könnten. Nach meiner eigenen Einschätzung und Erfahrung gibt es mehrere Gründe
dafür, bei einem eventuellen familiengeschichtlichen Exkurs innerhalb eines
Supervisionsprozesses einer systemischen Betrachtungsweise den Vorzug zu geben,
d.h. das, was die Supervisandln in ihrer eigenen frühen
Persönlichkeitsentwicklung als störend interpretiert, in seiner positiven
Funktion für das Familiensystem zu erhellen.
Einen ersten Grund sehe ich in dem Auftrag der Supervisorin, angemessen mit dem Übertragungsgeschehen umzugehen, das sich auch in einer nichttherapeutischen Beratungssituation einstellt. Erfahrungsgemäß ist es leichter, sich einer Beraterin gegenüber als erwachsene Gesprächspartnerin zu erleben und sich, wenn es ansteht, wirklich auch innerlich von ihr zu verabschieden, wenn diese in erster Linie die Kompetenzen gesehen und angesprochen hat, als wenn sie den Finger vor allem in die Wunden gelegt und den Defiziten nachgespürt hat. Gerade Supervisandlnnen aber sollen als erwachsene Gesprächspartnerinnen angesprochen werden und sollen ihren Lernprozeß maßgeblich und bewußt mitsteuern, wobei es sich vorrangig nicht um jene Form des Lernens handelt, die über ein Eintauchen in kindliche, womöglich sogar frühkindliche Gefühls und Konfliktlagen und - in einem pulsierenden Prozeß - deren gleichzeitige Reflexion geschieht. Insbesondere Deutungen, die darauf abzielen, unbewußte Konflikte, die frühen Erfahrungen zugrunde liegen mögen, aufzudecken, fördern regressives Erleben, für das ein Supervisionsprozeß schon allein von seiner Zeitstruktur her keine ausreichende Möglichkeit bietet, dieses konstruktiv im Dienste des Ich zu nutzen.Sie fördern Abhängigkeitsphantasien der Supervisandlnnen, die - werden sie nicht aufgelöst - einer Zunahme beruflicher Kompetenz entgegenstehen.
Aber auch Deutungen - und diese stehen in
unserem Zusammenhang eher zur Debatte -, die lediglich das, was den
Supervisandlnnen an alter Konfliktsituation und Problematik schon bewußt ist,
in seiner Parallelität zu heutigen beruflichen Problemen herausarbeiten, möchte
ich in ihrem supervisorischen Wert anfragen.
Dazu ein Beispiel aus der Praxis:
Herr X. arbeitet als Pastoralreferent in der Krankenhausseelsorge eines Klinikums. Er ist Mitglied eines großen Teams, das von einem Pfarrer geleitet wird. In der Gesprächsführung am Krankenbett und als Referent in einer Gruppe des ehrenamtlichen Besuchsdienstes fühlt er sich sicher und kompetent; aber die Zusammenarbeit im Team und die Mitarbeit in den Gesamtkonferenzen der Stationen machen ihm große Probleme. Wann immer Absprachen unter Kolleginnen und Kollegen getroffen werden, hat er nachträglich das Gefühl, sich mit seinen Vorstellungen nicht genügend durchgesetzt zu haben. Meine Nachfrage, welche Alternative denn aus seiner Sicht im konkreten Einzelfall die bessere gewesen wäre, macht deutlich, daß sich dieses Gefühl, »ein Fliegengewicht gewesen zu sein«, auch dann einstellt, wenn die Ergebnisse einer Sitzung gar nicht so sehr von seinen tatsächlichen Wünschen abweichen. In geradezu grüblerischer Weise aber beschäftigt ihn, daß er sich mit seinem Vorgesetzten, dem leitenden Pfarrer, nicht ernsthaft auseinandersetzt, obwohl er sich ihm auf theologischem Gebiet überlegen fühlt.
In der neunten von zwanzig Sitzungen einer Gruppensupervision berichtet Herr X., daß in einer länger zurückliegenden Einzelsupervision die Supervisorin ihn mit Recht darauf hingewiesen habe, daß er nie gelernt habe, sich gegen seinen »übermächtigen« Vater durchzusetzen. Das große Gewicht, das die anderen fünf Mitglieder der Supervisionsgruppe ihm, der ein intelligenter und einfühlsamer Gesprächspartner ist, einräumen, wird von ihm zwar dankbar, wenn auch etwas ungläubig konstatiert, vermag aber sein Bild von sich selbst als einem »schwachen Typ« offenbar kaum zu verändern.
Daß Herr X. selber auf die Beziehung zu seinem Vater anspielt; daß er dabei, was bei Mitgliedern psychosozialer Berufe nicht selten ist, mit einer kritischen Deutung befaßt ist, die ihm von beraterischer Seite einmal angeboten wurde; daß in der Gruppe eine gute Vertrauensbasis da ist und insbesondere daß die ständige Beschäftigung von Herrn X. mit der Frage, ob er sich genügend durchgesetzt habe, nach meinem Eindruck in seinem beruflichen Handeln viel Energie bindet, veranlassen mich, Herrn X. zu fragen, ob er etwas mehr von diesen familiären Vorerfahrungen erzählen möchte und die Gedanken der anderen Gruppenmitglieder und meine eigenen Gedanken dazu hören möchte. Er bejaht.
Herr X. ist einziger Sohn seiner Eltern; er hat noch eine ältere Schwester, die schon früh eigene Wege ging. Seine Mutter ist eine sensible, aber auch labile Frau, die während seiner Kindheit mehrmals manifest psychisch erkrankte und stationär behandelt werden mußte. Der Vater ist ein rauher, gelegentlich recht aggressiver Mann, dem die Mutter sich in den Augen von Herrn X. völlig anpaßte. Die seltenen, aber heftigen Auseinandersetzungen des Vaters mit der Schwester hat Herr X. noch als bedrohlich in Erinnerung. Er fühlte sich als Kind von dem für ihn eher unberechenbaren Vater oft ungerecht behandelt; dennoch wagte er nie, in einen offenen Konflikt mit ihm zu gehen. Das legt er sich - gerade heute in der Rückschau - als erhebliche Schwäche aus.
In diesem Fall ist es nicht schwer, den Blick auf die positive Funktion zu lenken, die die Zurückhaltung, die Bravheit des Supervisanden für sein familiäres System gehabt hat: Herr X. hat seiner Mutter erspart, heftige Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem Vater miterleben zu müssen; d.h., seine »Schwäche« dem Vater gegenüber war auch eine Stärke, Ausdruck seiner schon früh entwickelten Fähigkeit, sich schutzgebend - man könnte sagen: ritterlich - gegenüber seiner Mutter zu verhalten. Aus Loyalität zu seiner Mutter ist er offensichtlich bereit gewesen, auf die Durchsetzung eigener Interessen zu verzichten.
Obwohl Herrn X. auf meine Frage hin, was er denn in Erinnerung an die Auseinandersetzungen zwischen Vater und Schwester als »bedrohlich« empfunden habe, als erstes die Mutter einfällt, die seiner Einschätzung nach offene Konflikte nicht ertragen konnte, ist für ihn die positive Sicht auf sein eigenes Verhalten völlig neu. Sie durchkreuzt seine Fixierung auf die mit viel Selbstentwertung durchgetragene Interpretation, daß er »eigentlich« gegen seinen Vater hätte ankommen müssen und heute, im beruflichen Leben, »eigentlich« endlich männliche Kämpfe bestehen müßte. Seine Konzentration auf das »mangelnde Durchsetzungsvermögen« hindert ihn z.B. auch daran, seine Fähigkeit, vermittelnd zu wirken, überhaupt zu sehen, geschweige denn hochzuschätzen.
Nun könnte man einwenden, daß es ja in der Tat wichtig sein kann, gelegentlich
auch eine offene Auseinandersetzung, z.B. mit dem eigenen Chef, zu riskieren,
und daß deshalb die bloße positive Konnotation des vorsichtigen Verhaltens den
supervisorischen Auftrag verfehlen könnte. Dem möchte ich entgegenhalten, daß
die Frage ja gerade die ist, was es wohl wahrscheinlicher macht, daß der
Supervisand die Kraft zu einem alternativen - in diesem Fall: den Konflikt
wagenden - Verhalten findet: der Gedanke »Ich habe schon als Kind nicht die
Kraft gehabt, mich zu wehren« oder der Gedanke »Ich war ein so kräftiges Kind, daß
ich sogar bereit war, eigene Interessen um der Mutter willen zurückzustellen«.
Die Erfahrungen der Familientherapie jedenfalls sprechen dafür, daß es leichter
ist, sich mit einer Dysfunktionalität eigenen Verhaltens auseinanderzusetzen,
wenn man die Funktionalität des gleichen Verhaltens im damaligen familiären
Kontext verstanden hat und nicht mehr glaubt, man müsse gegen eine »Schwäche«
ankämpfen, die man als Eigenschaft geerbt oder aufgrund schwieriger familiärer
Situation erworben habe.
Wer es dabei bewenden ließe, die Parallele
zwischen dem Verhalten gegenüber dem Vater und dem gegenüber dem leitenden
Pfarrer herauszuarbeiten, würde natürlich darauf setzen, daß der Supervisand
sich bewußtmacht, dass seine Situation als erwachsener Mann dem Chef gegenüber
nicht von jener existentiellen Bedrohlichkeit ist, wie ein Kind sie seinem
Vater gegenüber erleben kann; er würde also darauf setzen, daß es dem
Supervisanden gelingt, von seiner familiären Vorgeschichte Distanz zu gewinnen.
Meine Erfahrung aber geht eher dahin, daß gerade in einer so begrenzten
Beratungssequenz, wie ein Supervisionsprozeß es ist, und angesichts der noch
begrenzteren Möglichkeiten eines familiengeschichtlichen Exkurses innerhalb
eines solchen Prozesses es erfolgversprechender ist, den Blick zurück
ausschließlich unter dem positiven Vorzeichen zu tun, jenen produktiven Kräften
nachzuspüren, die in den kindlichen Beiträgen zur Aufrechterhaltung des
familiären Gleichgewichtes gelegen haben. Dies ist oft nur durch Umdeutung und
Würdigung eines als defizitär erinnerten Verhaltens möglich. Dann geht es
weniger um eine Distanzierung von frühen Erfahrungen, als vielmehr darum, diese
gewissermaßen als Schubkraft für heutiges, auch berufliches Handeln zu nutzen.
Das Bewußtsein, sich um die eigenen Familienmitglieder verdient gemacht zu haben,
wird als zentrale Quelle des Selbstwertgefühls erlebt; und die Stärkung des
Selbstwertgefühls wiederum führt oft dazu, daß gerade auch in der Interaktion
zwischen Untergebenem und Vorgesetztem Signale ausgesandt werden, die die
Gefahr von destruktiven Spielen des Beherrschtwerdens und Beherrschens
reduziert.
In unserem Fall kann es darüber hinaus auch
hilfreicher sein, als Supervisorin anerkennend aufzugreifen, daß die Loyalität
zur oft kranken Mutter zu einem wesentlichen Moment der Identität von Herrn X.
geworden ist, welche im Beruf des Krankenhausseelsorgers eine fruchtbare
Umsetzung erfährt, als vielmehr im Gegenteil skeptisch auf Spuren eines
»Helfersyndroms« zu warten, die angesichts einer solchen Familiengeschichte ja
vermutlich durchaus auftauchen werden. Auch dabei unterscheidet sich eine
konsequent ressourcenorientierte Vorgehensweise nicht im Ziel, sondern nur im
Weg von anderen Vorgehensweisen. Ziel ist, die Möglichkeit des Supervisanden,
die Abgrenzung zu finden, die gerade für eine Berufstätigkeit, in der man
gehäuft mit existentiellen Ausnahmesituationen konfrontiert ist, so wichtig
ist. Zur Diskussion steht lediglich die Frage, ob der Supervisand die Kraft zur
Abgrenzung nicht eher dann gewinnt, wenn von seiten der Supervisorin dem
Hauptstrang seines Selbstentwurfs, nämlich Seel-«Sorger« der Schwachen zu sein,
als einer kostbaren Quelle beruflichen Handelns Respekt, vielleicht sogar
Bewunderung entgegengebracht wird. Die Erfahrungen in der Herkunftsfamilie haben
dem Supervisanden hohe Kompetenz vermittelt, Anwalt der Kranken zu sein, derer,
die nicht kämpfen, die nicht unbefangen glücklich zu sein vermögen. Wenn der
Supervisand darin mit sich selbst in Einklang sein darf und sich nicht
grundlegend in Frage stellen muß, wird ihm dies wahrscheinlich eine gute Basis
geben, auch etwas Neues, nämlich Abgrenzung, zu wagen. Auf der Grundlage einer
- oft unerwarteten - Anerkennung der Ressourcen, die in der familiären
Vorgeschichte liegen, erhöht sich jedenfalls nicht selten im Supervisionsprozeß
selbst die Fähigkeit und Bereitschaft einer Supervisandln,
Verhaltensalternativen für das gegenwärtige berufliche Tun zu erarbeiten. Dies
ist wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß das Durchspielen (und
Ausprobieren) dieser Alternativen dann nicht mehr so leicht als eine Art
Loyalitätsbruch empfunden wird.
Solche unmittelbar ichstärkenden
Interventionsformen fördern aber nicht nur das Zutrauen zu alternativen
Handlungsmöglichkeiten; sie lassen auch oft das, was an beruflichen
Interaktionen erlebt wird, in einem so anderen Licht erscheinen, daß es evtl.
gar nicht mehr vorrangig um Änderung des Verhaltens geht, sondern
vielmehr offenbar wird, daß die Bedeutung, die dem Verhalten bisher
gegeben wurde, das eigentliche Problem darstellt. So ist es z.B. Herrn X. nicht
möglich, im Blick auf seine Teilnahme an Konferenzen nüchtern mit eigenen
Ängsten zu rechnen, die, wie die Gruppenmitglieder ihm bestätigen, die meisten
Menschen durchmachen, wenn sie in größeren Gruppen agieren müssen, gerade dann,
wenn ihnen dort keine feste Rolle, wie etwa die des Lehrers, zukommt. Für ihn
sind diese Ängste nur eine weitere Bestätigung seiner Schwäche.
Für die systemisch vorgebildete Supervisorin
wird sich allerdings oft die Frage stellen, wie intensiv (und extensiv) sie in
eine Familiengeschichte einsteigen soll. Bei den Informationen, die Herr X.
über seine Herkunftsfamilie gibt, läge es z.B. nahe, dessen Bild von der Ehe
seiner Eltern - mächtiger, dominanter Vater und ohnmächtige, sich anpassende
Mutter - zurechtzurücken, da aus systemischer Sicht eine solche Deutung des
ehelichen Zusammenspiels angefragt werden muß, weil auf einer darunterliegenden
Ebene sehr wohl beide Eltern »mächtig« sind, beide die Beziehung
definieren. Meines Erachtens aber würden solche Deutungen von seiten einer
Supervisorin den vorgegebenen Rahmen sprengen, weil sie einerseits nur noch
höchst indirekt mit den beruflichen Erfahrungen von Herrn X. in Beziehung
gebracht werden könnten, andererseits aber einen gewissen Sog ausüben könnten,
immer tiefer in die eigene Geschichte einzutauchen; denn es gibt kaum etwas
Spannenderes als die Phantasien, die wir über die Ehe unserer Eltern haben. Ein
solcher Sog würde sich im übrigen, da es sich um eine Gruppensupervision
handelt, leicht auf die anderen Gruppenmitglieder auswirken, so daß es dann einer
besonderen Achtsamkeit bedürfte, die Supervisionsgruppe nicht zu einer
Selbsterfahrungsgruppe werden zu lassen. Allerdings könnte ich mir vorstellen,
darauf hinzuweisen, daß Herr X. als Kind nicht nur seiner Mutter, sondern auch
seinem Vater den offenen Konflikt erspart hat und damit dessen eheliche
Beziehung gestützt hat. Dies könnte Herrn X. gerade auch seinem Vater gegenüber
in eine andere, nämlich starke Position bringen und über diesen Weg u.U. auch
sein Selbstbewußtsein gegenüber Autoritäten im beruflichen Kontext erhöhen. Das
entscheidende Kriterium für ein Aufgreifen familiengeschichtlichen Materials in
der Supervision ist, denke ich, die Frage, ob eine Deutung bzw. Umdeutung als
notwendig oder doch jedenfalls förderlich für die Zunahme beruflicher Kompetenz
eingeschätzt wird.
Ob Ausflüge in die Familiengeschichte ein
sinnvoller Gegenstand eines Supervisionskontraktes bzw. »Zwischenkontraktes«
sein können, hängt aber auch von dem Kontext ab, in dem der Supervisionsprozeß
steht, und von dem Setting, in dem er durchgeführt wird. Im Fall des Herrn X.
z.B. handelte es sich um eine Gruppensupervision im Rahmen einer
berufsbegleitenden Fortbildung für pastorale Dienste, in die von vorneherein
Elemente von Selbsterfahrung zur Weiterentwicklung der Gesamtpersönlichkeit
integriert waren.
Ein solcher Kontext ermöglicht sicherlich eher das deutende Aufgreifen
familiengeschichtlichen Materials als etwa der Kontext einer Berufsausbildung, bei
der für Berufsanfängerinnen die Teilnahme an einer Supervisionsgruppe zum
regulären Ausbildungsgang gehört. Geradezu kontraproduktiv aber könnte es sich u.U.
auswirken, wenn die Supervisorin eines Arbeitsteams einem Teammitglied anböte,
seine Familiengeschichte zu eruieren. Angesichts der fortbestehenden
Arbeitsbeziehung der Teammitglieder behalten der Schutz der Intimsphäre eines
jeden Teammitglieds und die Regulierung von Nähe und Distanz eine vorrangige
Bedeutung. Eine Einzelsupervision dagegen gibt aufgrund der Intimität der
Situation, der Zentrierung auf die Handlungsmuster einer einzelnen Person und
des Maßes an Zeit, die deren Vorerfahrungen gewidmet werden kann, einen guten
Boden für einen solchen Rückblick in die Familiendynamik. Gerade hier bietet
sich auch eine Genogrammarbeit an (3). Andererseits gilt aber gerade
für manche Einzelsupervision, daß die Supervisandln eher die Therapeutin als
die Supervisorin sucht, so daß die Auftragsklärung und -bewahrung hier um so
wichtiger ist. Auch erfordert das Einzelsetting eine erhöhte Aufmerksamkeit für
Fragen von Übertragung und Abhängigkeit - doch diese Problematik wird, wie
dargelegt, durch die Fokussierung auf die Ressourcen der Supervisandln, auf
ihre produktiven Kräfte, meiner Erfahrung nach erheblich entschärft.
Wie anstrengend es für alle Beteiligten werden kann, wenn der Blick auf die Schwachstellen konzentriert wird, ist mir vor Jahren auf einer Tagung bei der Demonstration einer Lehrsupervision besonders deutlich geworden. Eine Supervisorin aus dem Teilnehmerkreis stellte das berufliche Problem ihres Supervisanden auf dem Hintergrund von dessen familiärer Geschichte dar, die sie mit Hilfe des Genogramms visualisierte und interpretierte. Überzeugend konnte sie darlegen, daß der Supervisand in seinem beruflichen Kontext ein altes, familiäres Problem wiederholte. Daraufhin forderte der Lehrsupervisor sie auf, ihr eigenes Genogramm zu entwerfen. Unschwer konnte er das Problem, das die Supervisorin mit ihrem Supervisanden hatte, in Beziehung setzen zu einem Konflikt, den sie in ihrer eigenen Herkunftsfamilie erlebt hatte. Die Ähnlichkeit ihrer familiären Vorerfahrung und Problematik mit der des Supervisanden war in der Tat frappierend. Man sollte allerdings in Rechnung stellen, daß die Fokussierung auf ein Problem eine Eigendynamik zu entwickeln pflegt, die es von vorneherein relativ wahrscheinlich macht, dass das anvisierte Problem in irgendeiner Form im Genogramm des Gegenübers und im eigenen Genogramm wiedergefunden werden kann. Das Erleben von Problemen hat nun einmal etwas Ansteckendes. Dies hat einerseits mit der Gegenübertragungssituation zu tun und andererseits vielleicht auch mit der Tatsache, daß wir Menschen, zumindest innerhalb unseres Kulturraums, uns in der Regel mit ein paar grundlegenden Entwicklungsaufgaben und eben auch familiären Konflikten auseinandersetzen, die unsere Wunden und Narben nicht selten vergleichbar sein lassen. Entscheidend aber scheint mir die Frage zu sein, unter welchem Blickwinkel wir die familiären Vorerfahrungen - die eigenen wie die der Supervisandlnnen - betrachten. In unserem Beispiel jedenfalls gab es nun schon vier Probleme: das heutige Problem des Supervisanden, das damalige in seiner Kindheit, das heutige Problem der Supervisorin mit ihm und das damalige in deren Kindheit. Gar nicht so einfach, angesichts einer solchen Fülle von Problemen, die alle in die gleiche Richtung weisen, nicht die Hoffnung auf eine konstruktive Lösung zu verlieren!
1 Vgl. Marianne Hege, Berufsbiographie in der Supervision, in: supervision,
Heft 26, Nov. 1994, S. 6 f.; Fritz Schütze, Strukturen des professionellen
Handelns, biographische Betroffenheit und Supervision, in: supervision, Heft
26, Nov. 1994, S. 10.
2 »Alte Erfahrungen werden neuen Erfahrungen zugeordnet. [...]
Gleich einem Resonanzboden tragen frühere Erfahrungen spätere, das gilt für
positive wie auch für schmerzliche Erfahrungen«, beschreibt Marianne Hege
diesen Vorgang (a.a.O., S. 5).
Auch ich bin der Meinung, daß es in einem Supervisionsprozeß oft sinnvoll sein kann,
solche Erinnerungen ohne vertiefenden Kommentar lediglich als »zugehörig,
entlastend, erweiternd, bereichernd« (Marianne Hege, ebd.) zu akzeptieren. Wie
ich im folgenden darlegen möchte, habe ich allerdings die Erfahrung gemacht, daß
unter bestimmten Bedingungen eine bestimmte Form von deutenden Interventionen
dem supervisorischen Auftrag durchaus dienlich sein kann.
3 In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine andere Erfahrung mit
Genogrammarbeit hinweisen, die ich in den Jahren 1994-1996 in einer Fortbildung
in systemischer Beratung gemacht habe, die der Diözesan-Caritasverband für das
Erzbistum Köln e.V. mit Unterstützung des Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend für Mitarbeiterinnen in der Schwangerschaftskonfliktberatung angeboten hat
[siehe Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V. (Hg.),
Systemisch orientierte Beratung für Schwangere und ihre Familien. Konzeption
und Reflexion einer Fortbildung für Beraterinnen, Schriftenreihe des
Diözesan-Caritasverbandes, Heft 37, Köln 1997].
Ich war an der Entwicklung des Konzeptes beteiligt und habe gemeinsam mit Vera Loos-Hilgert
die Kleingruppen geleitet. Bei der Diskussion des Curriculums wurde eingehend erörtert, ob es angebracht sei, die vorgesehene
familienorientierte Selbsterfahrung (insbesondere Arbeit am Genogramm) und die
sich daran anschließende systemisch orientierte Praxisbegleitung (insbesondere
Fallarbeit) in ein und derselben Gruppenzusammensetzung unter ein und
derselben Leitung durchführen zu lassen, oder ob es besser sei, die beiden
Ausbildungselemente völlig voneinander zu trennen, um die Gefahr zu reduzieren,
daß Selbsterfahrungswünsche auch in der Praxisbegleitung dominant bleiben. Wir
haben uns für erstere Struktur entschieden, wobei wir bewußt einen zeitlichen
Zwischenraum zwischen die beiden Gruppensitzungsblöcke gelegt haben. Der
Vorteil, die eigenen familiären Erfahrungen und insbesondere den systemischen
Umgang mit diesen Erfahrungen für die Reflexion der Beratungsarbeit (in dem
höchst familiären Themenbereich »Schwangerschaft«) und für deren Optimierung zu
nutzen, erschien uns vorrangig.
Dies hat sich, wie inzwischen rückblickend festgestellt werden kann, als
effektiv erwiesen, wobei mir natürlich bewußt ist, daß es sich hier um einen
ganz spezifischen Fortbildungskontext handelte.
supervision, Heft 33, März 1998