Dr. Elisabeth Mackscheidt

Home

Publikationen

Onlinetexte

Kontakt

Elisabeth Mackscheidt

Der Blick zurück allein genügt nicht

Zum systemischen Umgang mit familiengeschichtlichem Material in der Supervision

Es wird die Frage erörtert, inwieweit es im Rahmen einer Supervision angebracht sein kann, Deutungen familiärer Vorerfahrungen anzubieten. Neben einer Berücksichtigung des Settings und der jeweiligen Auftragslage wird die Beantwortung dieser Frage vor allem von der Art der Deutungen abhängig gemacht. An einem Fallbeispiel wird demonstriert, inwiefern ein ressourcenorientierter, systemischer Blick auf die Familiengeschichte dem Ziel eines Supervisionsprozesses dienlich sein kann.

Macht es Sinn, innerhalb eines Supervisionsprozesses die Verhaltensmuster, die Supervisandlnnen in ihrem beruflichen Kontext zeigen, in Zusammenhang zu bringen mit frühen Interaktionsmustern, die diese schon als Kind, aus welchem Grund auch immer, in ihrer Familie "gelernt" haben? Diese Frage läßt sich wohl nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten.

Da gilt es zunächst, auf denSupervisionskontrakt zu achten, der zweifellos kein Kontrakt über einen Selbsterfahrungsprozeß im allgemeinen Sinne oder gar über einen therapeutischen Prozeß ist. Es geht um die Reflexion beruflichen Handelns mit dem Ziel einer Zunahme an beruflicher Handlungskompetenz. So steht bei biographischer Arbeit im Rahmen einer Supervision der Teil der Lebensgeschichte im Vordergrund, der sich auf Erfahrungen bezieht, die im Beruf, in der Ausbildung und möglicherweise auch schon in der Schule gemacht wurden (1). Daß für die Frage, wie eine Supervisandln ihre beruflichen Erfahrungen interpretiert und ihr berufliches Handeln steuert, auch ihre familiäre Geschichte eine Rolle spielt, rechtfertigt m.E. noch nicht von vorneherein, diese Geschichte selbst zum Thema zu machen. Gewiß kann schon die bloße Frage, ob der Supervisandln ähnliche Konstellationen, Reaktionen etc. vertraut sind, zum Auftauchen früher Szenen führen - zumal wenn die Arbeitsbeziehung zwischen Supervisandln und Supervisorin eine sehr vertrauensvolle geworden ist; und manchmal bedarf es nicht einmal einer solchen Frage, um Erinnerungen an - oft leidvolle - Erfahrungen aus Kindheit und Jugend dargeboten zu bekommen (2). Deutende Interventionen von selten der Supervisorin würden nach meinem Verständnis aber immer einer Art Zwischenkontraktes, einer Rückversicherung darüber bedürfen, dass die Supervisandln diesen Exkurs in die familiäre Vorgeschichte auch wirklich wünscht. Es wird die Aufgabe der Supervisorin sein, dabei den Charakter des Exkurses zu wahren, d.h. nicht aus den Augen zu verlieren, sondern rechtzeitig zu thematisieren, welcher Lernertrag dieser Rückblick für das berufliche Handeln haben könnte. Sie mag sich dabei der systemischen Einsicht bewusst sein, daß nicht nur Supervisorinnen für ihre Supervisandlnnen sorgen, sondern auch Supervisandlnnen für ihre Supervisorinnen - daß es also durchaus eine wechselseitige Verführung zur Umstrukturierung von Supervision in Selbsterfahrung oder Therapie geben kann.

Entscheidender noch als die Frage, ob eine Deutung familiengeschichtlichen Materials angebracht ist, erscheint mir die Frage, welche Art von Deutungen für die Zunahme beruflicher Kompetenz hilfreich und unter den Bedingungen eines Supervisionsprozesses angemessen sein könnten. Nach meiner eigenen Einschätzung und Erfahrung gibt es mehrere Gründe dafür, bei einem eventuellen familiengeschichtlichen Exkurs innerhalb eines Supervisionsprozesses einer systemischen Betrachtungsweise den Vorzug zu geben, d.h. das, was die Supervisandln in ihrer eigenen frühen Persönlichkeitsentwicklung als störend interpretiert, in seiner positiven Funktion für das Familiensystem zu erhellen.

Einen ersten Grund sehe ich in dem Auftrag der Supervisorin, angemessen mit dem Übertragungsgeschehen umzugehen, das sich auch in einer nichttherapeutischen Beratungssituation einstellt. Erfahrungsgemäß ist es leichter, sich einer Beraterin gegenüber als erwachsene Gesprächspartnerin zu erleben und sich, wenn es ansteht, wirklich auch innerlich von ihr zu verabschieden, wenn diese in erster Linie die Kompetenzen gesehen und angesprochen hat, als wenn sie den Finger vor allem in die Wunden gelegt und den Defiziten nachgespürt hat. Gerade Supervisandlnnen aber sollen als erwachsene Gesprächspartnerinnen angesprochen werden und sollen ihren Lernprozeß maßgeblich und bewußt mitsteuern, wobei es sich vorrangig nicht um jene Form des Lernens handelt, die über ein Eintauchen in kindliche, womöglich sogar frühkindliche Gefühls und Konfliktlagen und - in einem pulsierenden Prozeß - deren gleichzeitige Reflexion geschieht. Insbesondere Deutungen, die darauf abzielen, unbewußte Konflikte, die frühen Erfahrungen zugrunde liegen mögen, aufzudecken, fördern regressives Erleben, für das ein Supervisionsprozeß schon allein von seiner Zeitstruktur her keine ausreichende Möglichkeit bietet, dieses konstruktiv im Dienste des Ich zu nutzen.Sie fördern Abhängigkeitsphantasien der Supervisandlnnen, die - werden sie nicht aufgelöst - einer Zunahme beruflicher Kompetenz entgegenstehen.

Aber auch Deutungen - und diese stehen in unserem Zusammenhang eher zur Debatte -, die lediglich das, was den Supervisandlnnen an alter Konfliktsituation und Problematik schon bewußt ist, in seiner Parallelität zu heutigen beruflichen Problemen herausarbeiten, möchte ich in ihrem supervisorischen  Wert anfragen.
Dazu ein Beispiel aus der Praxis:

Herr X. arbeitet als Pastoralreferent in der Krankenhausseelsorge eines Klinikums. Er ist Mitglied eines großen Teams, das von einem Pfarrer geleitet wird. In der Gesprächsführung am Krankenbett und als Referent in einer Gruppe des ehrenamtlichen Besuchsdienstes fühlt er sich sicher und kompetent; aber die Zusammenarbeit im Team und die Mitarbeit in den Gesamtkonferenzen der Stationen machen ihm große Probleme. Wann immer Absprachen unter Kolleginnen und Kollegen getroffen werden, hat er nachträglich das Gefühl, sich mit seinen Vorstellungen nicht genügend durchgesetzt zu haben. Meine Nachfrage, welche Alternative denn aus seiner Sicht im konkreten Einzelfall die bessere gewesen wäre, macht deutlich, daß sich dieses Gefühl, »ein Fliegengewicht gewesen zu sein«, auch dann einstellt, wenn die Ergebnisse einer Sitzung gar nicht so sehr von seinen tatsächlichen Wünschen abweichen. In geradezu grüblerischer Weise aber beschäftigt ihn, daß er sich mit seinem Vorgesetzten, dem leitenden Pfarrer, nicht ernsthaft auseinandersetzt, obwohl er sich ihm auf theologischem Gebiet überlegen fühlt.

In der neunten von zwanzig Sitzungen einer Gruppensupervision berichtet Herr X., daß in einer länger zurückliegenden Einzelsupervision die Supervisorin ihn mit Recht darauf hingewiesen habe, daß er nie gelernt habe, sich gegen seinen »übermächtigen« Vater durchzusetzen. Das große Gewicht, das die anderen fünf Mitglieder der Supervisionsgruppe ihm, der ein intelligenter und einfühlsamer Gesprächspartner ist, einräumen, wird von ihm zwar dankbar, wenn auch etwas ungläubig konstatiert, vermag aber sein Bild von sich selbst als einem »schwachen Typ« offenbar kaum zu verändern.

Daß Herr X. selber auf die Beziehung zu seinem Vater anspielt; daß er dabei, was bei Mitgliedern psychosozialer Berufe nicht selten ist, mit einer kritischen Deutung befaßt ist, die ihm von beraterischer Seite einmal angeboten wurde; daß in der Gruppe eine gute Vertrauensbasis da ist und insbesondere daß die ständige Beschäftigung von Herrn X. mit der Frage, ob er sich genügend durchgesetzt habe, nach meinem Eindruck in seinem beruflichen Handeln viel Energie bindet, veranlassen mich, Herrn X. zu fragen, ob er etwas mehr von diesen familiären Vorerfahrungen erzählen möchte und die Gedanken der anderen Gruppenmitglieder und meine eigenen Gedanken dazu hören möchte. Er bejaht.

Herr X. ist einziger Sohn seiner Eltern; er hat noch eine ältere Schwester, die schon früh eigene Wege ging. Seine Mutter ist eine sensible, aber auch labile Frau, die während seiner Kindheit mehrmals manifest psychisch erkrankte und stationär behandelt werden mußte. Der Vater ist ein rauher, gelegentlich recht aggressiver Mann, dem die Mutter sich in den Augen von Herrn X. völlig anpaßte. Die seltenen, aber heftigen Auseinandersetzungen des Vaters mit der Schwester hat Herr X. noch als bedrohlich in Erinnerung. Er fühlte sich als Kind von dem für ihn eher unberechenbaren Vater oft ungerecht behandelt; dennoch wagte er nie, in einen offenen Konflikt mit ihm zu gehen. Das legt er sich - gerade heute in der Rückschau - als erhebliche Schwäche aus.

In diesem Fall ist es nicht schwer, den Blick auf die positive Funktion zu lenken, die die Zurückhaltung, die Bravheit des Supervisanden für sein familiäres System gehabt hat: Herr X. hat seiner Mutter erspart, heftige Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem Vater miterleben zu müssen; d.h., seine »Schwäche« dem Vater gegenüber war auch eine Stärke, Ausdruck seiner schon früh entwickelten Fähigkeit, sich schutzgebend - man könnte sagen: ritterlich - gegenüber seiner Mutter zu verhalten. Aus Loyalität zu seiner Mutter ist er offensichtlich bereit gewesen, auf die Durchsetzung eigener Interessen zu verzichten.

Obwohl Herrn X. auf meine Frage hin, was er denn in Erinnerung an die Auseinandersetzungen zwischen Vater und Schwester als »bedrohlich« empfunden habe, als erstes die Mutter einfällt, die seiner Einschätzung nach offene Konflikte nicht ertragen konnte, ist für ihn die positive Sicht auf sein eigenes Verhalten völlig neu. Sie durchkreuzt seine Fixierung auf die mit viel Selbstentwertung durchgetragene Interpretation, daß er »eigentlich« gegen seinen Vater hätte ankommen müssen und heute, im beruflichen Leben, »eigentlich« endlich männliche Kämpfe bestehen müßte. Seine Konzentration auf das »mangelnde Durchsetzungsvermögen« hindert ihn z.B. auch daran, seine Fähigkeit, vermittelnd zu wirken, überhaupt zu sehen, geschweige denn hochzuschätzen.

Nun könnte man einwenden, daß es ja in der Tat wichtig sein kann, gelegentlich auch eine offene Auseinandersetzung, z.B. mit dem eigenen Chef, zu riskieren, und daß deshalb die bloße positive Konnotation des vorsichtigen Verhaltens den supervisorischen Auftrag verfehlen könnte. Dem möchte ich entgegenhalten, daß die Frage ja gerade die ist, was es wohl wahrscheinlicher macht, daß der Supervisand die Kraft zu einem alternativen - in diesem Fall: den Konflikt wagenden - Verhalten findet: der Gedanke »Ich habe schon als Kind nicht die Kraft gehabt, mich zu wehren« oder der Gedanke »Ich war ein so kräftiges Kind, daß ich sogar bereit war, eigene Interessen um der Mutter willen zurückzustellen«. Die Erfahrungen der Familientherapie jedenfalls sprechen dafür, daß es leichter ist, sich mit einer Dysfunktionalität eigenen Verhaltens auseinanderzusetzen, wenn man die Funktionalität des gleichen Verhaltens im damaligen familiären Kontext verstanden hat und nicht mehr glaubt, man müsse gegen eine »Schwäche« ankämpfen, die man als Eigenschaft geerbt oder aufgrund schwieriger familiärer Situation erworben habe.

Wer es dabei bewenden ließe, die Parallele zwischen dem Verhalten gegenüber dem Vater und dem gegenüber dem leitenden Pfarrer herauszuarbeiten, würde natürlich darauf setzen, daß der Supervisand sich bewußtmacht, dass seine Situation als erwachsener Mann dem Chef gegenüber nicht von jener existentiellen Bedrohlichkeit ist, wie ein Kind sie seinem Vater gegenüber erleben kann; er würde also darauf setzen, daß es dem Supervisanden gelingt, von seiner familiären Vorgeschichte Distanz zu gewinnen. Meine Erfahrung aber geht eher dahin, daß gerade in einer so begrenzten Beratungssequenz, wie ein Supervisionsprozeß es ist, und angesichts der noch begrenzteren Möglichkeiten eines familiengeschichtlichen Exkurses innerhalb eines solchen Prozesses es erfolgversprechender ist, den Blick zurück ausschließlich unter dem positiven Vorzeichen zu tun, jenen produktiven Kräften nachzuspüren, die in den kindlichen Beiträgen zur Aufrechterhaltung des familiären Gleichgewichtes gelegen haben. Dies ist oft nur durch Umdeutung und Würdigung eines als defizitär erinnerten Verhaltens möglich. Dann geht es weniger um eine Distanzierung von frühen Erfahrungen, als vielmehr darum, diese gewissermaßen als Schubkraft für heutiges, auch berufliches Handeln zu nutzen.
Das Bewußtsein, sich um die eigenen Familienmitglieder verdient gemacht zu haben, wird als zentrale Quelle des Selbstwertgefühls erlebt; und die Stärkung des Selbstwertgefühls wiederum führt oft dazu, daß gerade auch in der Interaktion zwischen Untergebenem und Vorgesetztem Signale ausgesandt werden, die die Gefahr von destruktiven Spielen des Beherrschtwerdens und Beherrschens reduziert.

In unserem Fall kann es darüber hinaus auch hilfreicher sein, als Supervisorin anerkennend aufzugreifen, daß die Loyalität zur oft kranken Mutter zu einem wesentlichen Moment der Identität von Herrn X. geworden ist, welche im Beruf des Krankenhausseelsorgers eine fruchtbare Umsetzung erfährt, als vielmehr im Gegenteil skeptisch auf Spuren eines »Helfersyndroms« zu warten, die angesichts einer solchen Familiengeschichte ja vermutlich durchaus auftauchen werden. Auch dabei unterscheidet sich eine konsequent ressourcenorientierte Vorgehensweise nicht im Ziel, sondern nur im Weg von anderen Vorgehensweisen. Ziel ist, die Möglichkeit des Supervisanden, die Abgrenzung zu finden, die gerade für eine Berufstätigkeit, in der man gehäuft mit existentiellen Ausnahmesituationen konfrontiert ist, so wichtig ist. Zur Diskussion steht lediglich die Frage, ob der Supervisand die Kraft zur Abgrenzung nicht eher dann gewinnt, wenn von seiten der Supervisorin dem Hauptstrang seines Selbstentwurfs, nämlich Seel-«Sorger« der Schwachen zu sein, als einer kostbaren Quelle beruflichen Handelns Respekt, vielleicht sogar Bewunderung entgegengebracht wird. Die Erfahrungen in der Herkunftsfamilie haben dem Supervisanden hohe Kompetenz vermittelt, Anwalt der Kranken zu sein, derer, die nicht kämpfen, die nicht unbefangen glücklich zu sein vermögen. Wenn der Supervisand darin mit sich selbst in Einklang sein darf und sich nicht grundlegend in Frage stellen muß, wird ihm dies wahrscheinlich eine gute Basis geben, auch etwas Neues, nämlich Abgrenzung, zu wagen. Auf der Grundlage einer - oft unerwarteten - Anerkennung der Ressourcen, die in der familiären Vorgeschichte liegen, erhöht sich jedenfalls nicht selten im Supervisionsprozeß selbst die Fähigkeit und Bereitschaft einer Supervisandln, Verhaltensalternativen für das gegenwärtige berufliche Tun zu erarbeiten. Dies ist wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß das Durchspielen (und Ausprobieren) dieser Alternativen dann nicht mehr so leicht als eine Art Loyalitätsbruch empfunden wird.

Solche unmittelbar ichstärkenden Interventionsformen fördern aber nicht nur das Zutrauen zu alternativen Handlungsmöglichkeiten; sie lassen auch oft das, was an beruflichen Interaktionen erlebt wird, in einem so anderen Licht erscheinen, daß es evtl. gar nicht mehr vorrangig um Änderung des Verhaltens geht, sondern vielmehr offenbar wird, daß die Bedeutung, die dem Verhalten bisher gegeben wurde, das eigentliche Problem darstellt. So ist es z.B. Herrn X. nicht möglich, im Blick auf seine Teilnahme an Konferenzen nüchtern mit eigenen Ängsten zu rechnen, die, wie die Gruppenmitglieder ihm bestätigen, die meisten Menschen durchmachen, wenn sie in größeren Gruppen agieren müssen, gerade dann, wenn ihnen dort keine feste Rolle, wie etwa die des Lehrers, zukommt. Für ihn sind diese Ängste nur eine weitere Bestätigung seiner Schwäche.

Für die systemisch vorgebildete Supervisorin wird sich allerdings oft die Frage stellen, wie intensiv (und extensiv) sie in eine Familiengeschichte einsteigen soll. Bei den Informationen, die Herr X. über seine Herkunftsfamilie gibt, läge es z.B. nahe, dessen Bild von der Ehe seiner Eltern - mächtiger, dominanter Vater und ohnmächtige, sich anpassende Mutter - zurechtzurücken, da aus systemischer Sicht eine solche Deutung des ehelichen Zusammenspiels angefragt werden muß, weil auf einer darunterliegenden Ebene sehr wohl beide Eltern »mächtig« sind, beide die Beziehung definieren. Meines Erachtens aber würden solche Deutungen von seiten einer Supervisorin den vorgegebenen Rahmen sprengen, weil sie einerseits nur noch höchst indirekt mit den beruflichen Erfahrungen von Herrn X. in Beziehung gebracht werden könnten, andererseits aber einen gewissen Sog ausüben könnten, immer tiefer in die eigene Geschichte einzutauchen; denn es gibt kaum etwas Spannenderes als die Phantasien, die wir über die Ehe unserer Eltern haben. Ein solcher Sog würde sich im übrigen, da es sich um eine Gruppensupervision handelt, leicht auf die anderen Gruppenmitglieder auswirken, so daß es dann einer besonderen Achtsamkeit bedürfte, die Supervisionsgruppe nicht zu einer Selbsterfahrungsgruppe werden zu lassen. Allerdings könnte ich mir vorstellen, darauf hinzuweisen, daß Herr X. als Kind nicht nur seiner Mutter, sondern auch seinem Vater den offenen Konflikt erspart hat und damit dessen eheliche Beziehung gestützt hat. Dies könnte Herrn X. gerade auch seinem Vater gegenüber in eine andere, nämlich starke Position bringen und über diesen Weg u.U. auch sein Selbstbewußtsein gegenüber Autoritäten im beruflichen Kontext erhöhen. Das entscheidende Kriterium für ein Aufgreifen familiengeschichtlichen Materials in der Supervision ist, denke ich, die Frage, ob eine Deutung bzw. Umdeutung als notwendig oder doch jedenfalls förderlich für die Zunahme beruflicher Kompetenz eingeschätzt wird.

Ob Ausflüge in die Familiengeschichte ein sinnvoller Gegenstand eines Supervisionskontraktes bzw. »Zwischenkontraktes« sein können, hängt aber auch von dem Kontext ab, in dem der Supervisionsprozeß steht, und von dem Setting, in dem er durchgeführt wird. Im Fall des Herrn X. z.B. handelte es sich um eine Gruppensupervision im Rahmen einer berufsbegleitenden Fortbildung für pastorale Dienste, in die von vorneherein Elemente von Selbsterfahrung zur Weiterentwicklung der Gesamtpersönlichkeit integriert waren.
Ein solcher Kontext ermöglicht sicherlich eher das deutende Aufgreifen familiengeschichtlichen Materials als etwa der Kontext einer Berufsausbildung, bei der für Berufsanfängerinnen die Teilnahme an einer Supervisionsgruppe zum regulären Ausbildungsgang gehört. Geradezu kontraproduktiv aber könnte es sich u.U. auswirken, wenn die Supervisorin eines Arbeitsteams einem Teammitglied anböte, seine Familiengeschichte zu eruieren. Angesichts der fortbestehenden Arbeitsbeziehung der Teammitglieder behalten der Schutz der Intimsphäre eines jeden Teammitglieds und die Regulierung von Nähe und Distanz eine vorrangige Bedeutung. Eine Einzelsupervision dagegen gibt aufgrund der Intimität der Situation, der Zentrierung auf die Handlungsmuster einer einzelnen Person und des Maßes an Zeit, die deren Vorerfahrungen gewidmet werden kann, einen guten Boden für einen solchen Rückblick in die Familiendynamik. Gerade hier bietet sich auch eine Genogrammarbeit an (3). Andererseits gilt aber gerade für manche Einzelsupervision, daß die Supervisandln eher die Therapeutin als die Supervisorin sucht, so daß die Auftragsklärung und -bewahrung hier um so wichtiger ist. Auch erfordert das Einzelsetting eine erhöhte Aufmerksamkeit für Fragen von Übertragung und Abhängigkeit - doch diese Problematik wird, wie dargelegt, durch die Fokussierung auf die Ressourcen der Supervisandln, auf ihre produktiven Kräfte, meiner Erfahrung nach erheblich entschärft.

Wie anstrengend es für alle Beteiligten werden kann, wenn der Blick auf die Schwachstellen konzentriert wird, ist mir vor Jahren auf einer Tagung bei der Demonstration einer Lehrsupervision besonders deutlich geworden. Eine Supervisorin aus dem Teilnehmerkreis stellte das berufliche Problem ihres Supervisanden auf dem Hintergrund von dessen familiärer Geschichte dar, die sie mit Hilfe des Genogramms visualisierte und interpretierte. Überzeugend konnte sie darlegen, daß der Supervisand in seinem beruflichen Kontext ein altes, familiäres Problem wiederholte. Daraufhin forderte der Lehrsupervisor sie auf, ihr eigenes Genogramm zu entwerfen. Unschwer konnte er das Problem, das die Supervisorin mit ihrem Supervisanden hatte, in Beziehung setzen zu einem Konflikt, den sie in ihrer eigenen Herkunftsfamilie erlebt hatte. Die Ähnlichkeit ihrer familiären Vorerfahrung und Problematik mit der des Supervisanden war in der Tat frappierend. Man sollte allerdings in Rechnung stellen, daß die Fokussierung auf ein Problem eine Eigendynamik zu entwickeln pflegt, die es von vorneherein relativ wahrscheinlich macht, dass das anvisierte Problem in irgendeiner Form im Genogramm des Gegenübers und im eigenen Genogramm wiedergefunden werden kann. Das Erleben von Problemen hat nun einmal etwas Ansteckendes. Dies hat einerseits mit der Gegenübertragungssituation zu tun und andererseits vielleicht auch mit der Tatsache, daß wir Menschen, zumindest innerhalb unseres Kulturraums, uns in der Regel mit ein paar grundlegenden Entwicklungsaufgaben und eben auch familiären Konflikten auseinandersetzen, die unsere Wunden und Narben nicht selten vergleichbar sein lassen. Entscheidend aber scheint mir die Frage zu sein, unter welchem Blickwinkel wir die familiären Vorerfahrungen - die eigenen wie die der Supervisandlnnen - betrachten. In unserem Beispiel jedenfalls gab es nun schon vier Probleme: das heutige Problem des Supervisanden, das damalige in seiner Kindheit, das heutige Problem der Supervisorin mit ihm und das damalige in deren Kindheit. Gar nicht so einfach, angesichts einer solchen Fülle von Problemen, die alle in die gleiche Richtung weisen, nicht die Hoffnung auf eine konstruktive Lösung zu verlieren!


1  Vgl. Marianne Hege, Berufsbiographie in der Supervision, in: supervision, Heft 26, Nov. 1994, S. 6 f.; Fritz Schütze, Strukturen des professionellen Handelns, biographische Betroffenheit und Supervision, in: supervision, Heft 26, Nov. 1994, S. 10.

2  »Alte Erfahrungen werden neuen Erfahrungen zugeordnet. [...] Gleich einem Resonanzboden tragen frühere Erfahrungen spätere, das gilt für positive wie auch für schmerzliche Erfahrungen«, beschreibt Marianne Hege diesen Vorgang (a.a.O., S. 5).
Auch ich bin der Meinung, daß es in einem Supervisionsprozeß oft sinnvoll sein kann, solche Erinnerungen ohne vertiefenden Kommentar lediglich als »zugehörig, entlastend, erweiternd, bereichernd« (Marianne Hege, ebd.) zu akzeptieren. Wie ich im folgenden darlegen möchte, habe ich allerdings die Erfahrung gemacht, daß unter bestimmten Bedingungen eine bestimmte Form von deutenden Interventionen dem supervisorischen Auftrag durchaus dienlich sein kann.

3 In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine andere Erfahrung mit Genogrammarbeit hinweisen, die ich in den Jahren 1994-1996 in einer Fortbildung in systemischer Beratung gemacht habe, die der Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V. mit Unterstützung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für Mitarbeiterinnen in der Schwangerschaftskonfliktberatung angeboten hat
[siehe Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V. (Hg.), Systemisch orientierte Beratung für Schwangere und ihre Familien. Konzeption und Reflexion einer Fortbildung für Beraterinnen, Schriftenreihe des Diözesan-Caritasverbandes, Heft 37, Köln 1997].
Ich war an der Entwicklung des Konzeptes beteiligt und habe gemeinsam mit Vera Loos-Hilgert die Kleingruppen geleitet. Bei der Diskussion des Curriculums wurde eingehend erörtert, ob es angebracht sei, die vorgesehene familienorientierte Selbsterfahrung (insbesondere Arbeit am Genogramm) und die sich daran anschließende systemisch orientierte Praxisbegleitung (insbesondere Fallarbeit) in ein und derselben Gruppenzusammensetzung unter ein und derselben Leitung durchführen zu lassen, oder ob es besser sei, die beiden Ausbildungselemente völlig voneinander zu trennen, um die Gefahr zu reduzieren, daß Selbsterfahrungswünsche auch in der Praxisbegleitung dominant bleiben. Wir haben uns für erstere Struktur entschieden, wobei wir bewußt einen zeitlichen Zwischenraum zwischen die beiden Gruppensitzungsblöcke gelegt haben. Der Vorteil, die eigenen familiären Erfahrungen und insbesondere den systemischen Umgang mit diesen Erfahrungen für die Reflexion der Beratungsarbeit (in dem höchst familiären Themenbereich »Schwangerschaft«) und für deren Optimierung zu nutzen, erschien uns vorrangig.
Dies hat sich, wie inzwischen rückblickend festgestellt werden kann, als effektiv erwiesen, wobei mir natürlich bewußt ist, daß es sich hier um einen ganz spezifischen Fortbildungskontext handelte.

 

supervision, Heft 33, März 1998

 

 




weinzweb