Dr. Elisabeth Mackscheidt
Bei
meiner Arbeit als systemisch orientierte
Beraterin ist mir im Laufe der Jahre immer deutlicher bewußt
geworden, daß es
eine Affinität gibt zwischen dem von mir geforderten
beraterischen Umgang mit
Menschen und dem, was ich als katholische Theologin in die Pastoral
einzubringen versuche (1). Ich möchte diese Parallele
am Beispiel der
pastoralen Begleitung von Menschen in Trennungs- und Scheidungskrisen
aufzeigen, wobei ich jeweils von einer für systemische Arbeit
typischen Sicht-
und Handlungsweise ausgehen werde.
Den Blickwinkel erweitern
Systemische
Beratung setzt
darauf, daß schon allein
dadurch, daß dem Klienten ermöglicht wird, das, was
er tut und erfährt, mit
anderen Augen, aus neuer Perspektive zu betrachten, er Entlastung und
Handlungsspielraum gewinnen kann. Einerseits erweitert die
Sichtweise der
Beraterin den Blickwinkel, und andererseits wird etwa ein Paar oder
eine
Familie angeregt, miteinander die unterschiedlichen
Sichtweisen auszutauschen.
So erweitert sich der Kontext, auf den der einzelne das, was er tut und
erfährt, beziehen kann.
Auch
der christliche Glaube bedeutet eine
Kontexterweiterung. Auch er stellt nicht etwa spezifische
Lösungen für Probleme
zur Verfügung, sondern führt eine
heilsgeschichtliche Perspektive ein, die die
eigene Lebensgeschichte in einen anderen,
größeren Sinnzusammenhang stellt.
Die Perspektive des christlichen Glaubens ist eine eschatologische
Perspektive,
d.h., erst der neue Himmel und die neue Erde werden die Vollendung des
Reiches
Gottes bringen. Auf diesem Hintergrund gibt es eine
"christliche
Relativierung jeder endlichen Lebensgestalt" (2).
Für
Menschen, die darunter leiden, daß ihr Entwurf
einer dauerhaften Partnerschaft nicht geglückt ist,
bedeutet dies die
tröstliche Botschaft, daß uns Christen die Freiheit
geschenkt wurde,
versöhnlich mit dem Fragmentarischen in unserem Leben
umzugehen, zu Brüchen
und Abbrüchen in unserer Biographie zu stehen und auch einer
Liebe, die zu
Ende ging, ihren Sinn zu lassen. Auch die Ehe ist eine Sozialgestalt,
die der
Gebrochenheit unserer irdischen Existenz unterliegt; auch in diesem
existentiellen Bereich dürfen wir u.U.
Neuentscheidungen wagen.
Ein
christlicher Umgang mit der Institution Ehe
sollte demnach einer Idealisierung der Ehe entgegenwirken.
Dazu gehört auch,
daß das "unauflösliche" Eheband nicht in
ontologischer Überhöhung
als statische Größe verstanden wird (3).
Wenn das Ende einer ehelichen
Beziehung nicht schlechthin als Katastrophe gedeutet wird, kann der
Gefahr
begegnet werden, im nachhinein diese Beziehung insgesamt zu
entwerten. Bei der
Verarbeitung einer Scheidung geht es ja darum, im
Rückblick die Liebe, die man
empfangen hat, und vor allem die Liebe, die man gegeben hat, als
bleibenden
Ertrag in den eigenen Selbstentwurf zu integrieren. Solche
Überlegungen
sollten auch bei einer kritischen Reflexion der katholischen
Annulierungspraxis
mitbedacht werden.
Neue Deutungen
ermöglichen
Systemische
Wege, zu konstruktiven Lösungen zu
gelangen, führen vorrangig über eine
Umdeutung dessen, was Menschen
miteinander erfahren. Es wird nicht in erster Linie zu
alternativem Verhalten
aufgefordert - auch wenn dies in eher spielerisch-experimenteller Form
als
Intervention vorkommen mag; es wird vielmehr die Möglichkeit
eröffnet, das
gleiche Verhalten über einen Wechsel der Perspektive anders,
und zwar
positiver, zu interpretieren, ohne daß dabei die Schmerzen
verleugnet würden (4).
Auf der Basis einer dadurch neu gewonnenen Wertschätzung der
eigenen Person und
bedeutsamer anderer Personen kann dann oft auch ein
alternatives Verhalten
entwickelt
werden.
Auch
die Botschaft Jesu ist in erster Linie nicht
eine Morallehre, eine Aufforderung, Verhalten an bestimmten
Normen zu messen;
sie ist in erster Linie ein Zuspruch - systemisch würden wir
vielleicht sagen:
eine Zuschreibung - von Heil, ein Zuspruch, auf den hin wir es
allererst wagen
können, auch das Unheil wahrzunehmen, Umkehr zu versuchen,
weil die Schuld uns
schon vergeben ist. Im Zentrum steht die Erfahrung von
Erlösung, die in der
christlichen Tradition bis hin zu der Umdeutung einer felix
culpa geführt
hat.
Im
Erleben von Partnern, die sich trennen, spielt das
Schuldthema fast immer eine große Rolle. Die Chance einer
christlichen
Spiritualität liegt nicht zuletzt in der Möglichkeit,
sich auch mit dem Anteil
eigener Schuld aussöhnen zu können. Die Erfahrung
lehrt zwar, daß gerade in der
Gestaltung von Beziehungen es oft ein unentwirrbares
Ineinander von Freiheit
und Gebundenheit gibt, so daß der bloße
Gesichtspunkt moralischer Schuld zu
kurz greifen würde. Auch gilt es, die strukturellen,
gesellschaftlichen
Bedingungen mitzuberücksichtigen, die das Leben in
Partnerschaft, Ehe und
Familie heute erschweren (5). Oft geht es also weniger um eine
Auseinandersetzung mit Schuld als vielmehr um das
Eingeständnis der Ohnmacht,
nicht immer des Glückes Schmied sein zu können; und
auch da kann die
christliche Sicht auf die Geschöpflichkeit uns zur Annahme
unserer Begrenztheit
verhelfen. Dennoch ist es wichtig, nicht weggucken zu müssen
von dem -
vielleicht sehr begrenzten - Bereich eigener Schuld, weil das helfen
kann,
einerseits die eher verschwommenen und manchmal auch
überbordenden Schuldgefühle
zu verlieren und andererseits auch nicht im anderen nur den
Bösen sehen zu
müssen. Beides legt Kräfte frei für die
Schritte, die jetzt anstehen.
Wenn
man diese Zusammenhänge bedenkt, so leuchtet
ein, wie kontraproduktiv sich jedwede moralische
Verkürzung der christlichen
Botschaft auf die Situation von Menschen, die sich trennen, auswirken
kann. Ich
denke dabei auch an den spezifischen Umgang der katholischen Kirche mit
Wiederverheiratung, durch den zumindest der Eindruck entstehen kann, im
Bereich
der Gestaltung von Partnerschaft und Ehe könne es Schritte
geben, die zu einer
Schuld führen, die nicht verziehen werden kann - wenn es keine
Entlastung durch
das Bußsakrament gibt. Gewiß betrifft dies nicht
unmittelbar die Situation
geschiedener Menschen, sondern nur die wiederverheirateter
Geschiedener;
dennoch belastet dieses Problem schon die Situation nach Scheidung
überhaupt,
zumal für viele Menschen eine neue Partnerschaft als
mögliche Lebensperspektive
eine zentrale Rolle spielt.
Gute Beweggründe
aufdecken
Systemische
Beratung fußt auf der Einsicht, daß eine
der erhellendsten Fragen im Blick auf menschliches Verhalten die ist:
"Wer
tut hier wem zuliebe was?" Jahrzehntelange Erfahrungen in der
Arbeit mit
Familien, Paaren und auch Einzelnen haben gezeigt,
daß im Miteinander der
Generationen ein Loyalitätszusammenhang entsteht, der
dazu führt, daß nicht
nur Eltern für ihre Kinder und Kindeskinder, sondern umgekehrt
auch Kinder für
ihre Eltern und Großeltern Sorge übernehmen;
natürlich gibt es auch Loyalitäten
zwischen Geschwistern und darüber hinaus neue
Loyalitätsstrukturen, etwa durch
Partnerschaften oder Freundschaften. Beeindruckend ist dabei vor allem
die
Erfahrung, daß gerade das, was die Familie als
Störung, als "Symptom"
erlebt, letztlich oft der Motivation entspringt, etwas Hilfreiches
für
diejenigen Menschen zu tun, für die - zumindest
unbewußt - Sorge übernommen
wurde.
Dieser
tiefe Respekt davor, daß wir Menschen auf
Liebe und Solidarität hin angelegt sind, macht m.E. den Kern
der Affinität
zwischen einem christlichen Menschenbild und einem
systemischen
Persönlichkeitsmodell aus. Wenn wir davon ausgehen
dürfen, daß Gott Liebe ist
und daß wir nach seinem Bild geschaffen sind, so erscheint es
als stimmig, daß
unsere erste und eigentliche Bewegung die ist, produktiv
für andere sein zu
wollen. In aller Bescheidenheit darf ich hier auf das Verdienst gerade
der
katholischen Theologie hinweisen, diese Facette christlicher Wahrheit -
daß der
Mensch als gute Kreatur des Schöpfergottes verstanden werden
darf - in
besonderer Weise tradiert zu haben.
Bei
der Begleitung von Menschen in Trennungs- und
Scheidungskrisen ist es wichtig, davon auszugehen, daß hinter
der Entscheidung
zur Trennung, wenn sie denn als aktiver, selbstverantworteter Schritt
erlebt
wurde, im Zweifelsfall gute Motive stehen - vielleicht die
Überzeugung, nur so
dem eigenen Entwurf von Liebe treu bleiben zu können;
vielleicht die Vorstellung,
nur so die Werte hochhalten zu können, die in der
Herkunftsfamilie
weitergegeben wurden; vielleicht die Herausforderung, nur so sich und
die
Kinder schützen zu können; vielleicht sogar,
bewußt oder unbewußt, der Wunsch,
nicht nur sich selbst, sondern auch dem Partner/der Partnerin
Weiterentwicklung
zu ermöglichen. Das Bewußtsein, unter dem
wohlwollenden Blick eines Gottes
leben zu dürfen, der den Menschen geschaffen und
erlöst hat, steht, denke ich,
in tiefem Einklang mit dieser Suche nach dem guten Boden einer meist
höchst
ambivalent erlebten Entscheidung.
Die
kostbare Leitidee, eine Partnerschaft so lebendig
zu erhalten, daß der Satz "Bis daß der Tod Euch
scheidet" eingelöst
werden kann, darf nicht gewissermaßen automatisch zu einer
moralischen
Verurteilung von Entscheidungen führen, eine eheliche
Beziehung zu beenden.
Wir müssen auch im kirchlichen Alltag - nicht nur im
theologischen Disput, wo
es ja schon geschehen ist - mehr Raum geben dafür,
daß Menschen ihre eigene
Entscheidung zur Trennung und möglicherweise auch zu einer
Wiederheirat als
ethisch hochstehende Antwort zu deuten vermögen.
Auf die Stärken schauen
Der
Wandel im beraterisch-therapeutischen Handeln,
den systemische Arbeit z.T. über ihre eigenen Schulrichtungen
hinaus
hervorgerufen hat, kann auch unter der Überschrift
zusammengefaßt werden
"Von einer Defizitorientierung zu einer
Ressourcenorientierung".
Selbst das Störende, vielleicht sogar Destruktive von
seiner - dem System -
dienlichen, produktiven Seite sehen zu können,
ermöglicht eine stringente
Konzentration auf die Kraft, die Kreativität, mit der Menschen
ihrer Sorge
füreinander nachzukommen versuchen (6). Den Blick der
Ratsuchenden auf ihre
eigenen Ressourcen und auf die ihres Umfeldes zu richten,
spielt als Leitlinie
für systemische Interventionen eine herausragende Rolle.
Jesus
von Nazareth, zu dessen Nachfolge wir ermutigt
sind, hat Menschen herausgerufen aus ihrer Krankheit, Schuld und
gesellschaftlichen Ächtung, indem er ihnen ermöglicht
hat, sich als jemanden zu
erfahren, der an Gottes Heilszuspruch glaubt (z.B. Mt.
9,27ff,: Heilung von
zwei Blinden; Mk. 5,34: Heilung einer kranken Frau); der für
andere bedeutsam
ist (Mk. 12,43: Opfer der Witwe; Lk. 19,1 ff.: Zöllner
Zachäus); der Liebe
schenken kann (Mt. 26,6ff.: Salbung in Betanien; Lk. 15,25ff.:
älterer Bruder
in Gleichnis vom verlorenen Sohn); der teilen kann (Joh. 6,1 ff.:
Speisung der
Fünftausend); der umkehren und danken kann (Lk. 17,15ff.:
dankbare Samariter).
Im Bewußtsein seiner eigenen vorbehaltlosen Annahme durch den
Vater im Himmel
hat Jesus jene positiven Zuschreibungen gemacht, die uns deutlich werden
lassen,
daß wir Menschen immer schon vom Heil umfangen sind -
daß das Reich Gottes
keine ferne Idee ist, sondern schon begonnen hat.
Nach
einer Trennung heißt Ressourcenorientierung, die
Entwicklungschancen in den Blick zu nehmen, die in dieser
Lebenskrise stecken,
z.B.: sich in nie geübten Rollen und Funktionen erleben; die
Tiefe der eigenen
Gefühle ausloten; die Tragfähigkeit alter
Freundschaften einschätzen können
und neue Freundschaften schließen; Solidarität
erfahren und schenken; Hilfe
annehmen lernen; zur Verarbeitung alter Trennungen - zur Individuierung
in der
eigenen Herkunftsfamilie - herausgefordert sein;
erhöhte Sensibilität und
Toleranz für die Wege und Umwege im Leben anderer
Menschen gewinnen. Einander
dafür Anerkennung auszudrücken, bedeutet
für Christen, den Segen konkret
werden zu lassen, den die Kirche Liebenden mit auf den Weg gibt und der
auch
für mögliche Zeiten eines Abschieds gilt.
Negativ
dagegen wird sich auf die Situation von
Menschen nach einer Trennung all das auswirken, was ihr
ohnehin oft gesunkenes
Selbstwertgefühl belastet: sie an den Rand der Gemeinde
drängen oder, oft
besser gesagt, sie nicht vom Rand in die Mitte bitten; ihre Trauer
nicht
würdigen; eine Sprache benutzen, die die Chancen dieser
Lebenssituation
vergessen läßt. Die Gemeinde kann und sollte
vielmehr ein Ort sein, wo die
Stärken geschiedener Menschen dadurch sichtbar zum
Tragen kommen, daß diesen
in ungehinderter Weise repräsentative Aufgaben anvertraut
werden und sie
ausdrücklich gebeten werden, ihre spezifische Erfahrung in das
Leben der
Gemeinde einzubringen.
Die Zukunft ins Auge fassen
Zukunftsorientierung
gehört zu den Charakteristika
systemischer Beratung. Wenn über hypothetische Fragen dazu
angeregt wird,
Zukunft bzw. Zukünfte zu entwerfen, so soll dies
Kreativität freisetzen für
alternative Möglichkeiten, das zukünftige
Leben zu gestalten. Das trägt mit
dazu bei, daß nicht das Problem, sondern seine
Lösung ins Zentrum der
Aufmerksamkeit rückt.
Aus
meiner Sicht gehört die einzigartige Basis, die
der christliche Glaube für das "Prinzip Hoffnung" (Ernst
Bloch)
abgibt, zum eigentlich Unterscheidenden des Christlichen. Als
Glaubende sind
wir hineingenommen in das Heilsgeschehen von Tod und Auferstehung. Die
Sakramente - wobei im katholischen Verständnis auch die Ehe
ein Sakrament ist -
sind gewissermaßen Kristallisationspunkte dieser
einen großen Bewegung (7).
Wir dürfen das Leben wagen, und das heißt
auch, das Sterben wagen - den Tod in
seiner Endgültigkeit und die vielen Tode, die die
Durchgangsstufen unseres
persönlichen Lebens ausmachen.
Insbesondere
in Krisensituationen hat es sich
bewährt, das Augenmerk auf die Schritte zu lenken, die in
naher Zukunft getan
werden können, und auch weiterreichende Perspektiven zu
eröffnen. So war nicht
nur der hohe Regelungsbedarf bei Trennung und Scheidung Anlaß
für die Einsicht,
daß die Kraft zu einer möglicherweise noch
ausstehenden Aufarbeitung der
zurückliegenden Beziehungsgeschichte eher dann gewonnen werden
kann, wenn in
der akuten Trennungssituation der Blick erst einmal nach vorne
gerichtet wird
und stabilisierende Erfahrungen bei der Gestaltung der neuen
Lebenssituation
gemacht werden können. Letzteres aber setzt voraus, sich eine
gute Zukunft
überhaupt zuzugestehen. In einer solchen Situation kann der
christliche Glaube
sich als tragend erweisen - der Glaube an einen Gott, der Zukunft
eröffnet; der
will, daß wir das Leben in Fülle haben; der
nie aufhört, uns zu einem
Neuanfang einzuladen.
Kirche, Gemeinde
könnte ein Umfeld sein, in dem Menschen nach Trennung
und Scheidung ermutigt werden, ihre je eigenen Neuanfänge zu
wagen. Es könnte
Platz da sein für die oft zunächst vorsichtigen
Schritte, wieder Vertrauen in
die Tragfähigkeit von Beziehungen zu gewinnen. Im Hinblick auf
den Weg der
meisten Menschen würde das allerdings bedeuten,
daß Christen sich stärker und
öffentlicher als bisher um eine Auseinandersetzung
und Konsensfindung bemühen
müßten in der Frage, wie wir zu einer
menschenfreundlicheren Kultur der
Sexualität finden können. Dazu würde dann
sicherlich der Versuch gehören, eine
Ethik und Spiritualität zu entwickeln, die dem Wegcharakter
des
erotisch-sexuellen Lebens gerecht wird. Auch gälte es, offen
dafür zu bleiben,
daß nicht zuletzt der Neuanfang einer Wiederheirat
die Konkretion sein kann,
mit der Menschen ihre Hoffnung auf die Verheißung der
"Auferstehung"
aufrechterhalten (8), und daß manchmal auch die Umkehr auf
diese Weise gelebt
werden möchte (9).
Sich allparteilich zuwenden
Die
Loyalitätsstruktur einer Familie (oder anderer
dauerhafter Bezugsgruppen) führt dazu, daß
man einem Familienmitglied
letztlich nur weiterhelfen kann, wenn man die
Bedürfnislage und die
Entwicklungschancen aller Familienmitglieder
mit im Blick hat. Eine
systemisch orientierte Familienberatung wendet sich deshalb allen
Mitgliedern
der Familie gleichermaßen zu; und auch wenn ihr
Gegenüber ein Einzelner ist,
wird dessen bewußter oder unbewußter Wunsch
respektiert, mit den eigenen Schritten
gleichzeitig hilfreich für andere Familienmitglieder sein zu
wollen. Wenn
Systemiker eher von Neutralität als von Allparteilichkeit
sprechen, so bedeutet
doch auch diese Haltung keine bloße Distanzierung, sondern
gleichzeitig die
Bereitschaft, sich in die Sichtweisen aller Mitglieder eines
Familiensystems
einzufühlen und sich in ausgewogener Weise für alle
zu engagieren.
Die befreiende Botschaft des Neuen Testamentes könnten wir
auch als
Botschaft von der Allparteilichkeit Gottes bezeichnen. Gott
erklärt sich solidarisch
mit den Menschen. Gott ergreift in Jesus Partei für die
Menschen, und zwar für jeden
Menschen. Jesus sprengt nicht
nur die Grenzen von Nationalität, Geschlecht
und Stand, sondern auch die einer Einteilung in Gerechte und
Sünder. Die
Lebenschancen der einzelnen Menschen gewinnen Vorrang vor
Gesetz und
Institution. Die Ausgegrenzten werden hereingeholt.
Selten ist es so mühsam, sich allparteilich zu verhalten, wie
angesichts eines
Paarkonflikts, der Spaltung einer Familie. Und doch wird in einer
solchen
Situation vor allem derjenige hilfreich sein können, der dazu
beiträgt, daß
die Interessen aller Familienmitglieder
berücksichtigt werden; der
verstanden hat, daß eine Trennung erst dann ganz vollzogen
und verarbeitet
werden kann, wenn jeder das Bewußtsein
aufrechterhält oder wiedergewinnt, sich
trotz allen Konfliktstoffs jedem Familienmitglied
gegenüber loyal zu
verhalten. Da kann es guttun, sich die radikale und zugleich
tröstliche
Botschaft von der uneingeschränkten Solidarität
Gottes mit jedem einzelnen
Menschen ins Gedächtnis zu rufen.
Auch
dieser für die Begleitung bei Trennung und
Scheidung zentrale Aspekt systemischer Beratung steht also in
Übereinstimmung
mit einer Haltung, um die Christen sich von altersher bemüht
haben. Dennoch
müssen wir eingestehen, daß nicht zuletzt im Namen
des Christentums es zu
moralischen Festschreibungen und zu Ausgrenzungen gekommen
ist. Umso mehr sind
wir herausgefordert, den Schatz zu heben, den christliche
Spiritualität für
eine konstruktive Beratung und Begleitung von Menschen bedeuten kann
(10).
Anmerkungen
1.
Vgl. Anselm Grün OSB,
Glauben als
Umdeuten:glauben, lieben, loben, Münsterschwarzach
1986; Elisabeth
Mackscheidt, Scheidung und
Wiederheirat. Eine Reflexion theologischer
Erwägungen aus der Sicht von Beratung, in: Pastoralblatt
3/1996, 78-84; dies.,
Zur Bedeutung der
Pflichtberatung aus familiendynamischer und pastoraler
Sicht, in: Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum
Köln e.V. (Hg.), Bericht
über die Arbeit der katholischen Beratungsstellen für
Schwangere und ihre
Familien 1995, Köln 1996, 49-58; Hans-Jakob
Weinz, Christlicher Glaube
als Ressource in der Beratung, in:
Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum
Köln e.V. (Hg.), Systemisch orientierte Beratung für
Schwangere und ihre
Familien, Köln 1997, 41-56.
2.
Josef Homeyer, zit.
nach Klaus Nientiedt,
Familiale Wirklichkeiten. Zwei Tagungen am Ende des "Internationalen
Jahres der Familie", in: Herder-Korrespondenz 1/1995, 18.
3.
Vgl. Johannes
Gründel, Ehescheidung
und
Wiederheirat. Moraltheologische Erwägungen, in:
Theodor Schneider (Hg.),
Geschieden - Wiederverheiratet - Abgewiesen? Antworten der
Theologie, Freiburg
1995, 284-298; Richard Puza, Die
gescheiterte Ehe. Eine Anfrage an die
kanonistische Lehre und Praxis, in: Theologische Quartalschrift 2/
1995,
97-108; Peter Walter, Wiederverheiratete
Geschiedene in der kirchlichen
"communio", in: Theodor Schneider, a.a.O., 168-182; Bernd
Jochen
Hilberath, Sakramentalität
und Unauflöslichkeit der Ehe aus dogmatischer
Sicht, in: Theologische Quartalschrift 2/1995, 125-135.
4.
Vgl. Vera
Loos-Hilgert/Elisabeth Mackscheidt, Systemisch
orientierte Selbsterfahrung und Praxisbegleitung, in:
Diözesan-Caritasverband
für das Erzbistum Köln e.V. (Hg.), Systemisch
orientierte Beratung für
Schwangere und ihre Familien, a.a.O., 63.
5.
Vgl. Elisabeth Bleske, Scheitern
am
lebenslangen Projekt Treue, in: Concilium 5/1990, 423-430; Hans-Jakob
Weinz,
Was macht es heute so schwer,
Ehe zu leben? Thesen zur Situation von Ehe
heute, in: Pastoralblatt 11/1993, 343-345. Elisabeth
Mackscheidt, Scheidung
und Wiederheirat. Eine Reflexion theologischer Erwägungen aus
der Sicht von
Beratung, a.a.O., 79ff.
6.
Vgl. Elisabeth Mackscheidt, Der
Blick
zurück allein genügt nicht - Zum systemischen Umgang
mit familiengeschichtlichem
Material in der Supervision, in: Supervision 33/ 1998,119-126.
7.
Vgl. Lorenz Wachinger, Paare
begleiten,
Mainz 1989, 90ff.; ders., Geschiedene
begleiten, Mainz 1995, 116ff.
8.
Vgl. Hans-Günter
Gruber, Christliche Ehe
in moderner Gesellschaft. Entwicklung - Chancen -
Perspektiven, Freiburg 1994,
322ff.
9.
Vgl. Ottmar Fuchs, Nicht
pastoraler
Kompromiß, sondern kompromißlose Pastoral!, in:
Theodor Schneider, a.a.O.,
329f.
10.
Vgl. auch Johannes
Böhnke, Beratung und
Spiritualität, Schriftenreihe des
Diözesan-Caritasverbandes für das Erzbistum
Köln e.V., Heft 27, Köln 1996.