Dr. Elisabeth Mackscheidt

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Systemische Beratung und christlicher Glaube

Zur Spiritualität der Begleitung bei Trennung und Scheidung

Elisabeth Mackscheidt

Bei meiner Arbeit als systemisch orientierte Beraterin ist mir im Laufe der Jahre immer deutlicher bewußt geworden, daß es eine Affinität gibt zwi­schen dem von mir geforderten beraterischen Umgang mit Menschen und dem, was ich als katholische Theologin in die Pastoral einzubringen versu­che (1). Ich möchte diese Parallele am Beispiel der pastoralen Begleitung von Menschen in Trennungs- und Scheidungskrisen aufzeigen, wobei ich jeweils von einer für systemische Arbeit typischen Sicht- und Handlungs­weise ausgehen werde.


Den Blickwinkel erweitern

Systemische Beratung setzt darauf, daß schon allein dadurch, daß dem Klienten ermöglicht wird, das, was er tut und erfährt, mit anderen Augen, aus neuer Perspektive zu betrachten, er Entlastung und Handlungsspiel­raum gewinnen kann. Einerseits erweitert die Sichtweise der Beraterin den Blickwinkel, und andererseits wird etwa ein Paar oder eine Familie ange­regt, miteinander die unterschiedlichen Sichtweisen auszutauschen. So erweitert sich der Kontext, auf den der einzelne das, was er tut und erfährt, beziehen kann.

Auch der christliche Glaube bedeutet eine Kontexterweiterung. Auch er stellt nicht etwa spezifische Lösungen für Probleme zur Verfügung, son­dern führt eine heilsgeschichtliche Perspektive ein, die die eigene Lebens­geschichte in einen anderen, größeren Sinnzusammenhang stellt. Die Perspektive des christlichen Glaubens ist eine eschatologische Perspekti­ve, d.h., erst der neue Himmel und die neue Erde werden die Vollendung des Reiches Gottes bringen. Auf diesem Hintergrund gibt es eine "christli­che Relativierung jeder endlichen Lebensgestalt" (2).

Für Menschen, die darunter leiden, daß ihr Entwurf einer dauerhaften Part­nerschaft nicht geglückt ist, bedeutet dies die tröstliche Botschaft, daß uns Christen die Freiheit geschenkt wurde, versöhnlich mit dem Fragmentari­schen in unserem Leben umzugehen, zu Brüchen und Abbrüchen in unse­rer Biographie zu stehen und auch einer Liebe, die zu Ende ging, ihren Sinn zu lassen. Auch die Ehe ist eine Sozialgestalt, die der Gebrochenheit unserer irdischen Existenz unterliegt; auch in diesem existentiellen Be­reich dürfen wir u.U. Neuentscheidungen wagen.

Ein christlicher Umgang mit der Institution Ehe sollte demnach einer Idea­lisierung der Ehe entgegenwirken. Dazu gehört auch, daß das "unauflösli­che" Eheband nicht in ontologischer Überhöhung als statische Größe ver­standen wird (3). Wenn das Ende einer ehelichen Beziehung nicht schlechthin als Katastrophe gedeutet wird, kann der Gefahr begegnet wer­den, im nachhinein diese Beziehung insgesamt zu entwerten. Bei der Ver­arbeitung einer Scheidung geht es ja darum, im Rückblick die Liebe, die man empfangen hat, und vor allem die Liebe, die man gegeben hat, als bleibenden Ertrag in den eigenen Selbstentwurf zu integrieren. Solche Über­legungen sollten auch bei einer kritischen Reflexion der katholischen Annulierungspraxis mitbedacht werden.


Neue Deutungen ermöglichen

Systemische Wege, zu konstruktiven Lösungen zu gelangen, führen vor­rangig über eine Umdeutung dessen, was Menschen miteinander erfah­ren. Es wird nicht in erster Linie zu alternativem Verhalten aufgefordert - auch wenn dies in eher spielerisch-experimenteller Form als Intervention vorkommen mag; es wird vielmehr die Möglichkeit eröffnet, das gleiche Verhalten über einen Wechsel der Perspektive anders, und zwar positiver, zu interpretieren, ohne daß dabei die Schmerzen verleugnet würden (4). Auf der Basis einer dadurch neu gewonnenen Wertschätzung der eigenen Person und bedeutsamer anderer Personen kann dann oft auch ein alter­natives Verhalten entwickelt werden.

Auch die Botschaft Jesu ist in erster Linie nicht eine Morallehre, eine Auf­forderung, Verhalten an bestimmten Normen zu messen; sie ist in erster Linie ein Zuspruch - systemisch würden wir vielleicht sagen: eine Zu­schreibung - von Heil, ein Zuspruch, auf den hin wir es allererst wagen können, auch das Unheil wahrzunehmen, Umkehr zu versuchen, weil die Schuld uns schon vergeben ist. Im Zentrum steht die Erfahrung von Erlö­sung, die in der christlichen Tradition bis hin zu der Umdeutung einer felix culpa geführt hat.

Im Erleben von Partnern, die sich trennen, spielt das Schuldthema fast immer eine große Rolle. Die Chance einer christlichen Spiritualität liegt nicht zuletzt in der Möglichkeit, sich auch mit dem Anteil eigener Schuld aussöhnen zu können. Die Erfahrung lehrt zwar, daß gerade in der Ge­staltung von Beziehungen es oft ein unentwirrbares Ineinander von Frei­heit und Gebundenheit gibt, so daß der bloße Gesichtspunkt moralischer Schuld zu kurz greifen würde. Auch gilt es, die strukturellen, gesellschaft­lichen Bedingungen mitzuberücksichtigen, die das Leben in Partnerschaft, Ehe und Familie heute erschweren (5). Oft geht es also weniger um eine Auseinandersetzung mit Schuld als vielmehr um das Eingeständnis der Ohnmacht, nicht immer des Glückes Schmied sein zu können; und auch da kann die christliche Sicht auf die Geschöpflichkeit uns zur Annahme unserer Begrenztheit verhelfen. Dennoch ist es wichtig, nicht weggucken zu müssen von dem - vielleicht sehr begrenzten - Bereich eigener Schuld, weil das helfen kann, einerseits die eher verschwommenen und manch­mal auch überbordenden Schuldgefühle zu verlieren und andererseits auch nicht im anderen nur den Bösen sehen zu müssen. Beides legt Kräfte frei für die Schritte, die jetzt anstehen.

Wenn man diese Zusammenhänge bedenkt, so leuchtet ein, wie kontra­produktiv sich jedwede moralische Verkürzung der christlichen Botschaft auf die Situation von Menschen, die sich trennen, auswirken kann. Ich denke dabei auch an den spezifischen Umgang der katholischen Kirche mit Wiederverheiratung, durch den zumindest der Eindruck entstehen kann, im Bereich der Gestaltung von Partnerschaft und Ehe könne es Schritte geben, die zu einer Schuld führen, die nicht verziehen werden kann - wenn es keine Entlastung durch das Bußsakrament gibt. Gewiß betrifft dies nicht unmittelbar die Situation geschiedener Menschen, sondern nur die wie­derverheirateter Geschiedener; dennoch belastet dieses Problem schon die Situation nach Scheidung überhaupt, zumal für viele Menschen eine neue Partnerschaft als mögliche Lebensperspektive eine zentrale Rolle spielt.


Gute Beweggründe aufdecken

Systemische Beratung fußt auf der Einsicht, daß eine der erhellendsten Fragen im Blick auf menschliches Verhalten die ist: "Wer tut hier wem zu­liebe was?" Jahrzehntelange Erfahrungen in der Arbeit mit Familien, Paa­ren und auch Einzelnen haben gezeigt, daß im Miteinander der Generatio­nen ein Loyalitätszusammenhang entsteht, der dazu führt, daß nicht nur Eltern für ihre Kinder und Kindeskinder, sondern umgekehrt auch Kinder für ihre Eltern und Großeltern Sorge übernehmen; natürlich gibt es auch Loyalitäten zwischen Geschwistern und darüber hinaus neue Loyalitäts­strukturen, etwa durch Partnerschaften oder Freundschaften. Beeindruckend ist dabei vor allem die Erfahrung, daß gerade das, was die Familie als Störung, als "Symptom" erlebt, letztlich oft der Motivation entspringt, etwas Hilfreiches für diejenigen Menschen zu tun, für die - zumindest un­bewußt - Sorge übernommen wurde.

Dieser tiefe Respekt davor, daß wir Menschen auf Liebe und Solidarität hin angelegt sind, macht m.E. den Kern der Affinität zwischen einem christ­lichen Menschenbild und einem systemischen Persönlichkeitsmodell aus. Wenn wir davon ausgehen dürfen, daß Gott Liebe ist und daß wir nach seinem Bild geschaffen sind, so erscheint es als stimmig, daß unsere er­ste und eigentliche Bewegung die ist, produktiv für andere sein zu wollen. In aller Bescheidenheit darf ich hier auf das Verdienst gerade der katholischen Theologie hinweisen, diese Facette christlicher Wahrheit - daß der Mensch als gute Kreatur des Schöpfergottes verstanden werden darf - in besonderer Weise tradiert zu haben.

Bei der Begleitung von Menschen in Trennungs- und Scheidungskrisen ist es wichtig, davon auszugehen, daß hinter der Entscheidung zur Trennung, wenn sie denn als aktiver, selbstverantworteter Schritt erlebt wurde, im Zweifelsfall gute Motive stehen - vielleicht die Überzeugung, nur so dem eigenen Entwurf von Liebe treu bleiben zu können; vielleicht die Vorstel­lung, nur so die Werte hochhalten zu können, die in der Herkunftsfamilie weitergegeben wurden; vielleicht die Herausforderung, nur so sich und die Kinder schützen zu können; vielleicht sogar, bewußt oder unbewußt, der Wunsch, nicht nur sich selbst, sondern auch dem Partner/der Partnerin Weiterentwicklung zu ermöglichen. Das Bewußtsein, unter dem wohlwol­lenden Blick eines Gottes leben zu dürfen, der den Menschen geschaffen und erlöst hat, steht, denke ich, in tiefem Einklang mit dieser Suche nach dem guten Boden einer meist höchst ambivalent erlebten Entscheidung.

Die kostbare Leitidee, eine Partnerschaft so lebendig zu erhalten, daß der Satz "Bis daß der Tod Euch scheidet" eingelöst werden kann, darf nicht gewissermaßen automatisch zu einer moralischen Verurteilung von Ent­scheidungen führen, eine eheliche Beziehung zu beenden. Wir müssen auch im kirchlichen Alltag - nicht nur im theologischen Disput, wo es ja schon geschehen ist - mehr Raum geben dafür, daß Menschen ihre eige­ne Entscheidung zur Trennung und möglicherweise auch zu einer Wieder­heirat als ethisch hochstehende Antwort zu deuten vermögen.


Auf die Stärken schauen

Der Wandel im beraterisch-therapeutischen Handeln, den systemische Arbeit z.T. über ihre eigenen Schulrichtungen hinaus hervorgerufen hat, kann auch unter der Überschrift zusammengefaßt werden "Von einer Defizit­orientierung zu einer Ressourcenorientierung". Selbst das Störende, viel­leicht sogar Destruktive von seiner - dem System - dienlichen, produktiven Seite sehen zu können, ermöglicht eine stringente Konzentration auf die Kraft, die Kreativität, mit der Menschen ihrer Sorge füreinander nachzu­kommen versuchen (6). Den Blick der Ratsuchenden auf ihre eigenen Res­sourcen und auf die ihres Umfeldes zu richten, spielt als Leitlinie für systemische Interventionen eine herausragende Rolle.

Jesus von Nazareth, zu dessen Nachfolge wir ermutigt sind, hat Menschen herausgerufen aus ihrer Krankheit, Schuld und gesellschaftlichen Ächtung, indem er ihnen ermöglicht hat, sich als jemanden zu erfahren, der an Got­tes Heilszuspruch glaubt (z.B. Mt. 9,27ff,: Heilung von zwei Blinden; Mk. 5,34: Heilung einer kranken Frau); der für andere bedeutsam ist (Mk. 12,43: Opfer der Witwe; Lk. 19,1 ff.: Zöllner Zachäus); der Liebe schenken kann (Mt. 26,6ff.: Salbung in Betanien; Lk. 15,25ff.: älterer Bruder in Gleichnis vom verlorenen Sohn); der teilen kann (Joh. 6,1 ff.: Speisung der Fünftausend); der umkehren und danken kann (Lk. 17,15ff.: dankbare Samariter). Im Bewußtsein seiner eigenen vorbehaltlosen Annahme durch den Vater im Himmel hat Jesus jene positiven Zuschreibungen gemacht, die uns deutlich werden lassen, daß wir Menschen immer schon vom Heil umfangen sind - daß das Reich Gottes keine ferne Idee ist, sondern schon begonnen hat.

Nach einer Trennung heißt Ressourcenorientierung, die Entwicklungs­chancen in den Blick zu nehmen, die in dieser Lebenskrise stecken, z.B.: sich in nie geübten Rollen und Funktionen erleben; die Tiefe der eigenen Gefühle ausloten; die Tragfähigkeit alter Freundschaften einschätzen kön­nen und neue Freundschaften schließen; Solidarität erfahren und schen­ken; Hilfe annehmen lernen; zur Verarbeitung alter Trennungen - zur Individuierung in der eigenen Herkunftsfamilie - herausgefordert sein; er­höhte Sensibilität und Toleranz für die Wege und Umwege im Leben ande­rer Menschen gewinnen. Einander dafür Anerkennung auszudrücken, be­deutet für Christen, den Segen konkret werden zu lassen, den die Kirche Liebenden mit auf den Weg gibt und der auch für mögliche Zeiten eines Abschieds gilt.

Negativ dagegen wird sich auf die Situation von Menschen nach einer Tren­nung all das auswirken, was ihr ohnehin oft gesunkenes Selbstwertgefühl belastet: sie an den Rand der Gemeinde drängen oder, oft besser gesagt, sie nicht vom Rand in die Mitte bitten; ihre Trauer nicht würdigen; eine Sprache benutzen, die die Chancen dieser Lebenssituation vergessen läßt. Die Gemeinde kann und sollte vielmehr ein Ort sein, wo die Stärken ge­schiedener Menschen dadurch sichtbar zum Tragen kommen, daß diesen in ungehinderter Weise repräsentative Aufgaben anvertraut werden und sie ausdrücklich gebeten werden, ihre spezifische Erfahrung in das Leben der Gemeinde einzubringen.


Die Zukunft ins Auge fassen

Zukunftsorientierung gehört zu den Charakteristika systemischer Beratung. Wenn über hypothetische Fragen dazu angeregt wird, Zukunft bzw. Zukünfte zu entwerfen, so soll dies Kreativität freisetzen für alternative Möglichkei­ten, das zukünftige Leben zu gestalten. Das trägt mit dazu bei, daß nicht das Problem, sondern seine Lösung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.

Aus meiner Sicht gehört die einzigartige Basis, die der christliche Glaube für das "Prinzip Hoffnung" (Ernst Bloch) abgibt, zum eigentlich Unterschei­denden des Christlichen. Als Glaubende sind wir hineingenommen in das Heilsgeschehen von Tod und Auferstehung. Die Sakramente - wobei im katholischen Verständnis auch die Ehe ein Sakrament ist - sind gewisser­maßen Kristallisationspunkte dieser einen großen Bewegung (7). Wir dür­fen das Leben wagen, und das heißt auch, das Sterben wagen - den Tod in seiner Endgültigkeit und die vielen Tode, die die Durchgangsstufen unse­res persönlichen Lebens ausmachen.

Insbesondere in Krisensituationen hat es sich bewährt, das Augenmerk auf die Schritte zu lenken, die in naher Zukunft getan werden können, und auch weiterreichende Perspektiven zu eröffnen. So war nicht nur der hohe Regelungsbedarf bei Trennung und Scheidung Anlaß für die Einsicht, daß die Kraft zu einer möglicherweise noch ausstehenden Aufarbeitung der zurückliegenden Beziehungsgeschichte eher dann gewonnen werden kann, wenn in der akuten Trennungssituation der Blick erst einmal nach vorne gerichtet wird und stabilisierende Erfahrungen bei der Gestaltung der neu­en Lebenssituation gemacht werden können. Letzteres aber setzt voraus, sich eine gute Zukunft überhaupt zuzugestehen. In einer solchen Situation kann der christliche Glaube sich als tragend erweisen - der Glaube an einen Gott, der Zukunft eröffnet; der will, daß wir das Leben in Fülle ha­ben; der nie aufhört, uns zu einem Neuanfang einzuladen.

Kirche, Gemeinde könnte ein Umfeld sein, in dem Menschen nach Tren­nung und Scheidung ermutigt werden, ihre je eigenen Neuanfänge zu wagen. Es könnte Platz da sein für die oft zunächst vorsichtigen Schritte, wieder Vertrauen in die Tragfähigkeit von Beziehungen zu gewinnen. Im Hinblick auf den Weg der meisten Menschen würde das allerdings bedeu­ten, daß Christen sich stärker und öffentlicher als bisher um eine Ausein­andersetzung und Konsensfindung bemühen müßten in der Frage, wie wir zu einer menschenfreundlicheren Kultur der Sexualität finden können. Dazu würde dann sicherlich der Versuch gehören, eine Ethik und Spiritualität zu entwickeln, die dem Wegcharakter des erotisch-sexuellen Lebens gerecht wird. Auch gälte es, offen dafür zu bleiben, daß nicht zuletzt der Neuan­fang einer Wiederheirat die Konkretion sein kann, mit der Menschen ihre Hoffnung auf die Verheißung der "Auferstehung" aufrechterhalten (8), und daß manchmal auch die Umkehr auf diese Weise gelebt werden möchte (9).


Sich allparteilich zuwenden

Die Loyalitätsstruktur einer Familie (oder anderer dauerhafter Bezugs­gruppen) führt dazu, daß man einem Familienmitglied letztlich nur weiter­helfen kann, wenn man die Bedürfnislage und die Entwicklungschancen aller Familienmitglieder mit im Blick hat. Eine systemisch orientierte Familienberatung wendet sich deshalb allen Mitgliedern der Familie glei­chermaßen zu; und auch wenn ihr Gegenüber ein Einzelner ist, wird dessen bewußter oder unbewußter Wunsch respektiert, mit den eigenen Schrit­ten gleichzeitig hilfreich für andere Familienmitglieder sein zu wollen. Wenn Systemiker eher von Neutralität als von Allparteilichkeit sprechen, so be­deutet doch auch diese Haltung keine bloße Distanzierung, sondern gleich­zeitig die Bereitschaft, sich in die Sichtweisen aller Mitglieder eines Familien­systems einzufühlen und sich in ausgewogener Weise für alle zu engagieren.

Die befreiende Botschaft des Neuen Testamentes könnten wir auch als Botschaft von der Allparteilichkeit Gottes bezeichnen. Gott erklärt sich so­lidarisch mit den Menschen. Gott ergreift in Jesus Partei für die Menschen, und zwar für jeden Menschen. Jesus sprengt nicht nur die Grenzen von Nationalität, Geschlecht und Stand, sondern auch die einer Einteilung in Gerechte und Sünder. Die Lebenschancen der einzelnen Menschen ge­winnen Vorrang vor Gesetz und Institution. Die Ausgegrenzten werden hereingeholt.

Selten ist es so mühsam, sich allparteilich zu verhalten, wie angesichts eines Paarkonflikts, der Spaltung einer Familie. Und doch wird in einer solchen Situation vor allem derjenige hilfreich sein können, der dazu bei­trägt, daß die Interessen aller Familienmitglieder berücksichtigt werden; der verstanden hat, daß eine Trennung erst dann ganz vollzogen und ver­arbeitet werden kann, wenn jeder das Bewußtsein aufrechterhält oder wie­dergewinnt, sich trotz allen Konfliktstoffs jedem Familienmitglied gegen­über loyal zu verhalten. Da kann es guttun, sich die radikale und zugleich tröstliche Botschaft von der uneingeschränkten Solidarität Gottes mit je­dem einzelnen Menschen ins Gedächtnis zu rufen.

Auch dieser für die Begleitung bei Trennung und Scheidung zentrale Aspekt systemischer Beratung steht also in Übereinstimmung mit einer Haltung, um die Christen sich von altersher bemüht haben. Dennoch müssen wir eingestehen, daß nicht zuletzt im Namen des Christentums es zu morali­schen Festschreibungen und zu Ausgrenzungen gekommen ist. Umso mehr sind wir herausgefordert, den Schatz zu heben, den christliche Spirituali­tät für eine konstruktive Beratung und Begleitung von Menschen bedeuten kann (10).


Anmerkungen

1.  Vgl. Anselm Grün OSB, Glauben als Umdeuten:glauben, lieben, loben, Münsterschwarz­ach 1986; Elisabeth Mackscheidt, Scheidung und Wiederheirat. Eine Reflexion theolo­gischer Erwägungen aus der Sicht von Beratung, in: Pastoralblatt 3/1996, 78-84; dies., Zur Bedeutung der Pflichtberatung aus familiendynamischer und pastoraler Sicht, in: Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V. (Hg.), Bericht über die Arbeit der katholischen Beratungsstellen für Schwangere und ihre Familien 1995, Köln 1996, 49-58; Hans-Jakob Weinz, Christlicher Glaube als Ressource in der Beratung, in: Diöze­san-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V. (Hg.), Systemisch orientierte Beratung für Schwangere und ihre Familien, Köln 1997, 41-56.
2.  Josef Homeyer, zit. nach Klaus Nientiedt,  Familiale Wirklichkeiten. Zwei Tagungen am Ende des "Internationalen Jahres der Familie", in: Herder-Korrespondenz 1/1995, 18.
3.  Vgl. Johannes Gründel, Ehescheidung und Wiederheirat. Moraltheologische Erwägun­gen, in: Theodor Schneider (Hg.), Geschieden - Wiederverheiratet - Abgewiesen? Ant­worten der Theologie, Freiburg 1995, 284-298; Richard Puza, Die gescheiterte Ehe. Eine Anfrage an die kanonistische Lehre und Praxis, in: Theologische Quartalschrift 2/ 1995, 97-108; Peter Walter, Wiederverheiratete Geschiedene in der kirchlichen "communio", in: Theodor Schneider, a.a.O., 168-182; Bernd Jochen Hilberath, Sakramentalität und Unauflöslichkeit der Ehe aus dogmatischer Sicht, in: Theologische Quartal­schrift 2/1995, 125-135.
4.  Vgl. Vera Loos-Hilgert/Elisabeth Mackscheidt, Systemisch orientierte Selbsterfahrung und Praxisbegleitung, in: Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V. (Hg.), Systemisch orientierte Beratung für Schwangere und ihre Familien, a.a.O., 63.
5.  Vgl. Elisabeth Bleske, Scheitern am lebenslangen Projekt Treue, in: Concilium 5/1990, 423-430; Hans-Jakob Weinz, Was macht es heute so schwer, Ehe zu leben? Thesen zur Situation von Ehe heute, in: Pastoralblatt 11/1993, 343-345. Elisabeth Mackscheidt, Scheidung und Wiederheirat. Eine Reflexion theologischer Erwägungen aus der Sicht von Beratung, a.a.O., 79ff.
6.  Vgl. Elisabeth Mackscheidt, Der Blick zurück allein genügt nicht - Zum systemischen Umgang mit familiengeschichtlichem Material in der Supervision, in: Supervision 33/ 1998,119-126.
7.  Vgl. Lorenz Wachinger, Paare begleiten, Mainz 1989, 90ff.; ders., Geschiedene beglei­ten, Mainz 1995, 116ff.
8.  Vgl. Hans-Günter Gruber, Christliche Ehe in moderner Gesellschaft. Entwicklung - Chan­cen - Perspektiven, Freiburg 1994, 322ff.
9.  Vgl. Ottmar Fuchs, Nicht pastoraler Kompromiß, sondern kompromißlose Pastoral!, in: Theodor Schneider, a.a.O., 329f.
10. Vgl. auch Johannes Böhnke, Beratung und Spiritualität, Schriftenreihe des Diözesan-Caritasverbandes für das Erzbistum Köln e.V., Heft 27, Köln 1996.


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