Dr. Elisabeth Mackscheidt
Lieben wir uns eigentlich noch ?
Gedanken einer
Familientherapeutin
Man könnte meinen, die im Titel genannte Frage, die Ehepartner sich heute –
offen oder vor allem insgeheim - stellen, sei so alt wie die Ehe selbst. Doch
im Gegenteil: Kulturgeschichtlich gesehen ist diese Frage noch jung, zumindest
was das Gewicht anbelangt, das sie im Leben einer Ehe bekommen hat.
Erst unsere so genannte ausdifferenzierte Gesellschaft hat dem Subsystem Ehe
die große Chance und Last beschert, sich von der Liebe her zu definieren;
Ehepartner sehen sich mit dem Anspruch konfrontiert, ihr Zusammenbleiben
darüber zu legitimieren, dass sie sich lieben.
Was aber ist Liebe?
Wie immer man diese Frage beantworten mag - und es gibt mannigfache Antworten
-, sicher ist, dass es sich bei Liebe um eine Interpretation handelt, um die
Deutung, die Menschen ihrer Beziehung zu einem anderen Menschen geben und die
Partner manchmal einander mitteilen, vielleicht sogar miteinander teilen. Das
heißt aber auch, dass unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen die Dauer
einer Ehe nicht zuletzt davon abhängt, ob beide Partner ihrer eigenen
Einstellung, ihrem grundlegenden Verhalten und vor allem ihren Gefühlen dem
Ehepartner gegenüber die Deutung »Liebe« geben und ob sie gleichzeitig dem
anderen einräumen, dass er seine Einstellung, sein Verhalten und seine Gefühle
so interpretieren darf. Ich möchte deshalb einige jener Vorstellungen von Liebe benennen, die es
Paaren erschweren können, mit versöhnlichem Blick auf ihre Beziehung zu
schauen.
Da ist zum einen die Vorstellung einer andauernden emotionalen Nähe zueinander.
Ich denke dabei nicht in erster Linie an jene Paare, die, wenn eben möglich,
alles gemeinsam tun und erleben möchten, sondern ich denke durchaus an den
»Normalfall«, dass die Partner sehr selbstverständlich ihre je eigenen
beruflichen oder auch anderen Bereiche gestalten, aber doch eben den Anspruch
an sich selbst haben, quasi täglich wieder in das Gefühl der Nähe zum anderen
einzutauchen. Innere Verbundenheit kann aber nur in einem pulsierenden Prozess
von Sich-nah-Sein und Sich-fern-Sein gewonnen werden. Und dieses Auf und Ab
braucht nicht lediglich eine Sache von Tagen oder Wochen zu sein, sondern kann
sehr wohl längere Abschnitte in der Geschichte einer Ehe ausmachen. Wer fünfzig
oder noch mehr Jahre miteinander verbringt, wird immer wieder auch Zeiten
erleben, in denen das Verhältnis zueinander als ein Nebeneinander beschrieben
werden müsste.
Eine Besonderheit der heutigen Situation scheint mir darin zu liegen, dass
dieses Nebeneinander insofern leicht wie ein getrenntes, unbeteiligtes
Nebeneinander erlebt wird, als oft das »Dritte« fehlt, über das die Beziehung
gelebt werden kann.In früheren Zeiten war es meist schlicht der Überlebenskampf, der die
Ehepartner zu gemeinsamem Handeln herausforderte. Andere wiederum bestellten
gemeinsam einen Hof oder einen Handwerksbetrieb, so dass auch ihre produktiven
Kräfte einem gemeinsamen Thema galten - ganz zu schweigen von der oft großen
Schar der Kinder, für deren »Kindheit« man sich zwar nicht so bewusst
interessierte, die aber jedenfalls versorgt, vor allem ernährt werden mussten.
Heute sind die Lebenswelten der Partner meist sehr verschiedene. Erfahrene
Eheberater wie Duss von Werdt weisen uns aber daraufhin, dass jede
Paarbeziehung, um langfristig lebendig zu bleiben, ein »Drittes« braucht.
Es erscheint lohnend, sich in den verschiedenen Zeiten des ehelichen und
familiären Zyklus immer neu zu fragen, was dieses »Dritte« sein könnte.
Sind Kind oder Kinder vorhanden, so bedeutet das gewiss ein elementares
verbindendes Engagement; andererseits jedoch kann es für Kinder außerordentlich
anstrengend werden, wenn sie den Eindruck gewinnen, sie müssten sich
dauerhaft als Thema zur Verfügung stellen, da es keine anderen gemeinsamen
Themen gibt. Insofern kann es gerade für Paare mit Kindern wichtig sein, diese
Frage bewusst anzugehen. Wer allerdings die Belastungen der jungen Eltern in
unserem Land kennt, deren Nervenkraft oft aufs Äußerste gefordert ist, um auch
nur organisatorisch eigene Berufstätigkeit und individuelle Förderung der
Kinder unter einen Hut zu bekommen, der weiß, dass es gerade in dieser Phase
einer Ehe gar nicht so selbstverständlich ist, Luft für ein gemeinsames Tun und
Erleben auf der Paarebene zu gewinnen.
Es liegt nahe anzunehmen, dass das Sexualleben der Partner eine entscheidende
Basis des ehelichen Lebens abgibt. Hier, so vermutet man, ist der eigentliche
Ort des Sich-gegenseitig-Anschauens, der Unmittelbarkeit der Begegnung, der
Erfahrung von Nähe. Und in der Tat kann dieser Bereich der Intimität in einer
Ehe eine bedeutsame Quelle der Begeisterung füreinander und der Versöhnung
miteinander sein. Wohlgemerkt: Dies kann, muss aber nicht sein.
Lange Zeit - und das gilt teilweise, vielleicht sogar großenteils, auch heute
noch - war es in der psycho-sozialen Szene üblich, bei einem Paar, das von
sexuellen Schwierigkeiten berichtet, sofort zu vermuten, dass da irgendetwas in
der Beziehung »nicht stimmt«. Wer einen solch vereinfachenden Schluss zieht,
übersieht offenbar, dass es Paare gibt, die sich wegen erheblicher Konflikte
zur Trennung entschieden haben und die dennoch weiterhin von befriedigenden
sexuellen Erlebnissen erzählen, und dass es vor allem viele Paare gibt, die
eine lebenslange tiefe und reiche Beziehung miteinander verbindet und bei denen
es insgesamt nur relativ wenig gelebte Sexualität gab, die vielleicht schon in
mittleren Jahren ganz davon Abstand genommen haben.
Für die Frage »Lieben wir uns eigentlich noch?« scheint mir die Erfahrung
systemisch orientierter Sexualberatung, wie Ulrich Clement sie reflektiert hat,
von hoher Bedeutung zu sein. Danach folgen die Bindungsgeschichte und die
Geschichte der sexuellen Begegnung eines Paares einer je eigenen Logik. Was
Sexualität für den Einzelnen ausmacht, z. B. was sexuell stimulierend wirkt,
ist offenbar nur sehr individuell zu beantworten; es beruht auf einer Mitgift,
wie immer man diese begründen mag, die beide Partner weitgehend schon in die
Beziehung mit einbringen, und erklärt sich offenbar nicht vorrangig aus der
Paarbeziehung selbst.
Das soll nun nicht heißen, dass es gar keinen Zusammenhang gäbe zwischen der
Bindungsgeschichte eines Paares und seinem Sexualleben. So kann die
Vertrautheit, die Verlässlichkeit, die zwischen den Partnern im Laufe der Ehe
entstanden ist, dazu ermutigen, sich fallen lassen, sich hingeben zu können;
und die Bereitschaft, sich dem anderen zuzuwenden, kann helfen, die Bedürfnisse
des anderen sensibel zu erspüren und auch den verbalen Austausch darüber zu
wagen.
Andererseits aber entsteht sexuelle Anziehung oft gerade nicht auf dem
Hintergrund von Vertrautheit, sondern von Fremdheit. Sie will nicht
Berechenbarkeit, sondern Überraschung, nicht unbedingt das freundschaftliche
Gespräch, sondern Eroberung, Fremdheit, Unberechenbarkeit, ja Kampf – dies
alles sind Momente, die eine langjährige Paargeschichte, in der es Vertrauen,
Gedankenaustausch, geteilte Interessen und solidarische Unterstützung gibt,
durchaus nicht von vornherein einschließt. Man könnte fast sagen, im Gegenteil: Wenn die Partner eine tiefe Bindung
eingehen, d. h. wenn ihr Bedürfnis, sich loyal zu verhalten, wächst und sie
Sorge füreinander übernehmen, dann liegt es in gewisser Weise sogar nahe, dass
sie einander schonen und ihre sexuellen Aktivitäten auf jene, vielleicht
kleine, Schnittmenge reduzieren, wo ihrer beider erotisch-sexuellen Phantasien,
Wünsche und Ausdrucksformen ihnen miteinander vereinbar erscheinen.
Natürlich heißt das nicht, dass in langen »guten« Ehen ein bescheidenes Sexualleben
zu erwarten sei; und sinnvollerweise würde ein Berater/eine Beraterin solche
Partner, wenn sie über Lustlosigkeit klagen, ermutigen, gerade weil sie sich
lieben, einander mehr zuzumuten, also auch Überraschendes zu riskieren. Ich
möchte lediglich dazu anregen, nicht vorschnell den Schluss zu ziehen, dass
sexuelle »Probleme« schon ein Hinweis darauf wären, die Liebe zueinander
infrage stellen zu müssen.
Eheliche Liebe lebt auf, wenn wir sie von überhöhten Erwartungen entlasten und
die alltägliche, auch banale gemeinsame Geschichte als ihre Gestalt schätzen
lernen.
Elisabeth Mackscheidt
neue gespräche 1/2001