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aus: Rudolf Rüberg,

Im Widerspruch. Zur Kontroverse um die wiederverheirateten Geschiedenen, Kevelaer 1995

HANS JAKOB WEINZ

Stimmen des Volkes Gottes - Reaktionen auf das vatikanische Schreiben

(ebd. 75-95)

Theologischer Kontext und Vorgeschichte

Das Vatikanische Konzil hat in seiner Kirchenkonstitution "Lumen Gentium" die die Bedeutung des sensus fidelium, des Glaubenssinnes aller Gläubigen, deutlich herausgestellt. So heißt es dort: "Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben, kann im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes dann kund, wenn sie von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien' ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert" (LG 12). Dieses durch Taufe und Firmung geschenkte innere Gespür für die Wirklichkeit Gottes unter den Menschen und für das, was den Menschen zur Fülle des Lebens führt, gibt dem Wissen der "einfachen Gläubigen‑, der Stimme des Volkes gegenüber dem Papst und den Bischöfen eine eigene theologische Dignität, zumal dann, wenn es sich um Fragen handelt, welche direkt bestimmte Lebensbereiche ansprechen, in denen die Gläubigen selbst eine eigene Erfahrungs‑ und Lebenskompetenz erworben haben, weil sie es sind, die dort ganz konkret Glauben und Leben verbinden und den Anruf Gottes in den Zeichen der Zeit wahrnehmen. Im Blick auf das Leben in Ehe und Familie hat Papst Johannes Paul II. in seinem Lehrschreiben "Familiaris Consortio" diese originäre Kompetenz der Ehepaare und Familien ausdrücklich gewürdigt. Endet diese Kompetenz bei der Frage, wie Kirche und Christen mit der Tatsache des Scheiterns von Ehe und der Wiederheirat geschiedener Christen umgehen sollen? Erlischt der Glaubenssinn bei Christen, die geschieden und wiederverheiratet sind, wenn sie sich als Christen zu ihrer Lebenssituation äußern und ihren Wunsch ausdrücken, zum Tisch des Herrn zugelassen zu werden?

Das Schreiben der Glaubenskongregation über den Kommunionempfang von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen geht mit keinem Wort auf diese Quelle kirchlicher Wahrheitsfindung und Lebensgestaltung ein. Damit übergeht es einen wichtigen theologischen Kontext, ja vielleicht sogar den zentralen inneren Impuls des Hirtenschreibens der Bischöfe der oberrheinischen Kirchenprovinz, auf das die römische Intervention ja offensichtlich zielt.

Welchen Ort haben katholische Christen, die geschieden und wieder verheiratet sind, in unseren Gemeinden? Wie können wir in der Frage des Eucharistieempfangs von wiederverheirateten Geschiedenen zu einer barmherzigeren und gerechteren Praxis kommen? Diese Fragen bewegen spätestens seit der Synode der Deutschen Bistümer die Katholiken in unserem Land. Und es war nicht zunächst der pastorale Mut der Bischöfe oder das Drängen von Theologen, die zu konkreten pastoralen Lösungen führten, sondern das beharrliche Insistieren der betroffenen Christen und der mit ihnen solidarischen Mitchristen und Seelsorger, die auf vielen Ebenen und nicht zuletzt auf allen diözesanen Synoden, Versammlungen oder Foren mit unermüdlicher Energie, hoher Frustrationstoleranz und nicht selten zunächst vergeblich' dieses Thema angesprochen und Handlungsbedarf angemeldet haben.(1)

Der Freiburger Erzbischof, Oskar Saier, einer der Autoren des Hirtenschreibens, verweist ausdrücklich auf diesen Kontext, wenn er seine Initiative und die seiner Mitbischöfe als Weiterarbeit der diözesanen synodalen Prozesse bezeichnet: "Diese Weiterarbeit (an den Themen des Freiburger Diözesanforums) könnte ich mir so ähnlich vorstellen wie die Erstellung der Leitlinien zur Pastoral mit wiederverheirateten Geschiedenen'. Diese wurden vom Freiburger Diözesanforum angeregt und mit Voten versehen. Der Diözesanpastoralrat hat sie zusammen mit einer Kommission von Experten in mehreren Sitzungen beraten und sie mir übergeben. Da dieses Thema weit über unsere Diözese hinaus von Bedeutung ist, trat ich in Kontakt mit den Bischöfen der Oberrheinischen Kirchenprovinz. In mehreren Gesprächen einigten wir uns auf folgende Vorgehensweise: Aufgrund der vom Diözesanpastoralrat unseres Bistums erarbeiteten Leitlinien werden die Bischöfe von Mainz, Rottenburg‑Stuttgart und Freiburg zusammen beraten und gemeinsame und gleiche Richtlinien herausgeben. Zugleich haben wir die Absicht, zeitgleich einen Hirtenbrief über die Ehe und die wiederverheirateten Geschiedenen an die Pfarreien der drei Diözesen zu richten. (2)

Weil die Zeit reif war für ein erlösendes Wort, weil viele Seelsorger auf ein solidarisches Wort zu ihrer schon längst vielfach "anderen‑, bewährten Praxis warteten, konnten es die oberrheinischen Bischöfe nicht mehr mit ihrem Gewissen verantworten (so Erzbischof Saier in einem Gespräch), einfach zuzuwarten und das "pastorale Dilemma durch Schweigen zu "lösen".

Das römische Dokument übergeht diesen Kontext; es lässt die theologische Dignität dieses gemeinsamen Verständigungsprozesses der Gläubigen mit ihren Hirten, des gemeinsamen Suchens nach Gerechtigkeit, d.h. nach einer angemessenen Praxis, ungewürdigt. In seiner Fixierung auf die Ebene des Prinzipiellen tritt die Erklärung der Glaubenskongregation in einen deutlichen Kontrast zur Stimme des Volkes, wie sie sich erst jetzt wieder eindrücklich im Pastoralgespräch des Erzbistums Köln artikuliert hat. In der offiziellen Zusammenfassung der an den Bischof gerichteten Voten vor allem der Gemeinden und Dekanate des Bistums heißt es unter anderem:

"Wahrnehmung

Der Umgang der katholischen Kirche mit wiederverheirateten Geschiedenen gehört zu den am häufigsten genannten Themen. Dabei gilt die kritische Analyse zwei grundlegenden Fragestellungen: 1. Wie erleben wiederverheiratete Geschiedene ihre Situation in der Kirche? Wie erleben Menschen die katholische Kirche, wenn sie deren Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen in den Blick nehmen? Einige Voten sprechen die seelische Not an, die die Scheidung selbst mit sich bringt. Häufig wird darauf hingewiesen, dass viele wiederverheiratete Geschiedene sich von der Kirche alleingelassen fühlen. Dass sie nicht zu den Sakramenten zugelassen werden, erleben sie als unverständliche Härte ‑ als Ausgrenzung ..."


Sehr viele Voten verbinden die Frage des Umgangs der Kirche mit wiederverheirateten Geschiedenen mit der Frage der Glaubwürdigkeit der Kirche. Der Mangel an Lebensnähe, Toleranz und insbesondere an Barmherzigkeit, den die Kirche in diesem Bereich zeigt, schadet der Kirche insgesamt. Er erschwert es ihr, glaubwürdig die befreiende Botschaft Jesu von einem Gott, der den Menschen zugewandt ist, zu bezeugen.

"Perspektiven

An erster Stelle (in der Mehrzahl der Voten zur Geschiedenenpastoral) steht die Aufforderung, wiederverheiratete Geschiedene zu den Sakramenten zuzulassen ... In vielen Voten spielt der ausdrückliche Rekurs auf das Gewissen eine Rolle. Wiederverheiratete Geschiedene, die ihr Gewissen geprüft haben und sich für den Empfang der Kommunion entschieden haben, sollen in ihrer Entscheidung respektiert werden. Berücksichtigt man die 28 Voten, die für eine breitere kirchliche Anerkennung des Hirtenwortes der oberrheinischen Bischöfe zur Geschiedenenpastoral plädieren, so gewinnt die Gewissensfrage ein noch größeres Gewicht innerhalb der Voten. Gerade die ausführlicheren Voten zeigen, dass der Einsatz für einen anderen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen sehr wohl einhergeht mit einer ausdrücklichen Hochschätzung des Sakramentes der Ehe. Das Engagement gilt vor allem einer barmherzigen Kirche. Es wird zum Ausdruck gebracht, dass man mit rein rechtlichen Kategorien in diesem Bereich den Menschen nicht gerecht wird. Dabei wird vereinzelt auch darauf hingewiesen, dass der Weg der Annullierung dem Problem nicht angemessen ist."
(3)

Aus der Perspektive dieses und anderer Kontexte wird deutlich, in welchen Kommunikationszusammenhang das römische Dokument hineinspricht und hineinwirkt, ohne diesen und die daran Beteiligten selbst wirklich zur Kenntnis zu nehmen (eine Art Monolog im Dialog) und ohne die theologische Dignität dieses Prozesses zu würdigen.

Von daher sind die Reaktionen in der deutschen Kirche und der deutschen Öffentlichkeit nicht einfach nur unter "Kritik an Rom" abzubuchen, sie könnten vielmehr als ein Versuch verstanden werden, das Gespräch über Wahrheit und Gerechtigkeit weiterzuführen unter kritischer Einbeziehung der Position der Glaubenskongregation: In der Reaktion der deutschen Katholiken auf allen Ebenen zeigt sich doch auch der Glaubenssinn der Gläubigen; ja sogar die Reaktion der nichtkirchlichen Öffentlichkeit hat möglicherweise theologische Relevanz, wenn sie der unter dem Selbstanspruch der "mütterlichen Liebe‑ stehenden Kirche zeigt, wie sie in den Augen und Herzen der Menschen tatsächlich wirkt.

Reaktionen auf die Erklärung der Glaubenskongregation

Reaktionen im außerkirchlichen Raum

Welcher Stellenwert ist Reaktionen der außerkirchlichen Öffentlichkeit, vor allem der Medien, im Blick auf innerkirchliche Suchprozesse beizumessen? Sind sie unter dem ja nicht selten sich bestätigenden Vor‑Urteil der hämischen Kirchenfeindlichkeit ad acta zu legen, oder verbirgt sich hinter mancher Häme und scharfer Kritik eine gesellschaftliche Sehnsucht, dass es in einer "kühlen" Welt "brutaler Diesseitigkeit" (P.M. Zulehner) eine für alle sichtbare und erlebbare gesellschaftliche Institution geben möge, in der die heilende Nähe zu den Menschen und eine Humanität aus der Weite des transzendenten "Mehr" Gottes gewissermaßen gesellschaftlich greifbar bleibt? Nach kirchlichem Selbstverständnis sind "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art ... auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihrem Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die ... eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist" (Gaudium et spes, Nr. 1).

Kirche beansprucht also für sich solidarisches Verstehen, Mitfühlen mit den Menschen von heute. Die Frage, ob die Menschen sich wirklich verstanden fühlen, ob Kirche im Erleben der Menschen als "Sakrament" wirkt, kann deshalb nicht unerheblich sein. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Kirche kann zu einem heilsamen Impuls für eine Selbstreflexion werden, die fragt, was es denn mit der Wirklichkeit ihres Glaubens und ihrer in der Praxis "fühlbaren" Lehre auf sich habe, wenn Menschen nach eigenem Bekunden das Wirken der Kirche nicht (mehr) als heilend, befreiend, ermutigend erfahren können.

Nicht nur Christen leiden am Zerbrechen ihrer Ehe, fragen sich, ob sie ein Recht auf neues Glück in einer neuen Liebesgeschichte haben, stehen vor der nicht leichten Aufgabe, mit ihren Kindern und einem neuen Partner Familie zu werden, fragen sich, ob es so gut und recht ist, ob es gut gehen mag. Darum ist der Umgang der Kirche mit geschiedenen und wiederverheirateten Christen, ist ihre Wertung der Zweitehe als "schwere Sünde", ist der Ausschluss von der Eucharistie als ein bewertendes Signal auch für betroffene Menschen außerhalb der Kirche bedeutsam. Kirchen und Religionen sind in einer säkularen Gesellschaft (fast) die einzige moralische Instanz, die anzeigt, ob etwas (wieder) gut und recht ist, die von Schuld(‑gefühlen) entlastet, die aus der Weite der Transzendenz Versöhnung mit Gebrochenheit und Begrenztheit zuspricht. Auch kirchenferne Menschen fühlen sich betroffen von einer (so erlebten) Menschenferne der Kirche. So ist es eigentlich nicht allzu verwunderlich, dass die deutsche Presse sehr ausführlich und über einen größeren Zeitraum über die durch die römische Erklärung ausgelöste öffentliche und kirchliche Diskussion berichtet und sich selbst kommentierend an der öffentlichen Meinungsbildung beteiligt hat.

Fast ohne Ausnahme haben die überregionalen und regionalen Tageszeitungen und Wochenzeitschriften die römische Erklärung bzw. die damit gegebene Intervention scharf kritisiert:
Die römische Intervention zeige eine "brüske Haltung" und sei ein "kaltes Nein" gegenüber dem Wunsch der wiederverheirateten Katholiken nach Kommunion, "in der Eiszeit" verharrend, gehe die "mütterliche Kirche knallhart zur Sache"; der Papst weise Trostsuchende rüde vom Tisch", die Entscheidung gehe "an der Not vieler Menschen vorbei"; sei "absurd", stoße vor den Kopf und löse "Enttäuschung und Bitterkeit" bei den Betroffenen aus, sei ein "Schlag gegen die christliche Nächstenliebe" und eine "Brüskierung der Betroffenen", die Haltung der Kirche sei "inhuman" und widerspreche der christlichen Tradition; es müsse wie "Hohn und Heuchelei" klingen, wenn "sakramentaler Trost verweigert" werden solle; dies sei "Zynismus gegenüber den Betroffenen", es gehe um eine "Lehre, welche die Konflikte der Menschen ignoriert‑; der Vatikan befinde sich "im Ghetto seiner rigorosen Moral" und kenne "kein Pardon, wenn es um die reine Lehre geht", Prinzipien seien wichtiger als das Schicksal und die Not von Menschen; der konkrete Mensch bleibe außer acht, und es bestünde die Gefahr, dass die zum Heil der Menschen bestellte Kirche in ihrem Theoriegebäude von den wirklichen Problemen der Menschen nichts mitbekomme; die oberrheinischen Bischöfe hätten als "Seelsorger gehandelt, nicht als Kirchenrechtler"; sie hätten versucht, "humane Wege aus doktrinärer Sackgasse" zu zeigen; den Bischöfen gehe es um "Gerechtigkeit und Barmherzigkeit", sie seien der "komplexen Wirklichkeit ihrer Kirche allemal näher".

Gelegentlich wird die Hoffnung geäußert, dass das Gespräch dennoch weitergeht; ein Kommentator schließt seinen Beitrag:
"Es wäre zu wünschen, dass nun tatsächlich die theologische Fragestellung auch theologisch diskutiert wird. Immerhin lässt der Umstand hoffen, dass Rom diesmal kein Denkverbot ausgesprochen hat."
Wenn man die Kommentare als eine echte An‑Frage an die Kirche verstehen will, so lassen sich folgende Fragen herauskristallisieren:
Geht Kirche barmherzig auf die Not der betroffenen Menschen ein? Wird sie der konkreten und komplexen Situation einzelner Menschen gerecht? Was ist das leitende Prinzip kirchlichen Handelns: Prinzipientreue oder Gerechtigkeit und Barmherzigkeit? Gibt es einen Ausgleich zwischen Kirchenrecht und Seelsorge? Was die inhaltliche Auseinandersetzung mit den zentralen theologischen Fragepunkten betrifft, so lässt sich konstatieren, dass diese sich in der Regel auf die Darlegungen der oberrheinischen Bischöfe in ihrem "Begleitschreiben" (zum römischen Dokument) stützen und ähnliche Problernfelder benennen. Es geht um die Frage der Vermittlung normativer Prinzipien mit der faktischen Lebensrealität der Menschen.
"Erzbischof Saier, Bischof Lehmann und Bischof Kasper hatten nämlich das verwirklicht, was die römische Kirche seit Jahrhunderten zu eigenem und der Menschen Nutzen praktiziert: Fest im Prinzipiellen, mild im Persönlichen, in der Seelsorge ... Wenig hilfreich ist dieses Schreiben der Glaubenskongregation; viel hilfreicher, dass die deutschen Bischöfe mutig zu ihrem Versuch stehen, für den Menschen von heute die Moralprinzipien der Kirche begreifbar und zugleich im Leben anwendbar zu machen" (H.‑J. Fischer, FAZ).
Es geht um die Frage des persönlichen Gewissens gegenüber kirchlichen Normen und Rechtsordnungen:
"Es geht um die Rettung des eigenständigen Gewissens vor dem universalen Diktat der Norm ... In der kürzlich erschienenen Moralenzyklika Glanz der Wahrheit' wird es noch einmal deutlich: Dem Papst und der Kurie zufolge hat das Gewissen lediglich die Aufgabe, die allgemeingültigen' Normen Punkt für Punkt und Komma für Komma in praktisches Handeln zu übersetzen. Abweichungen von der Position des Lehramts sind verboten. Dabei bleiben die jeweilige Einzelsituation, die Brüche in menschlichen Lebensläufen, kurz: der konkrete Mensch, außer acht. Es bleiben aber auch außer acht die breiten Ströme in der katholischen Lehrtradition, die ‑‑ unter voller Respektierung der Notwendigkeit von Normen an sich die schöpferische' Dimension des gleichwohl verantwortungsvollen Gewissens bei der praktischen Umsetzung dieser Normen und der Gestaltung des Lebens hervorheben" (P. Kreiner, Stuttgarter Zeitung).
Es geht um die Frage der Barmherzigkeit als Anwendungsprinzip von Rechtsordnungen und Normen:
"Natürlich: In der grundsätzlichen Frage der Lehre gibt es keinen Dissens; denn auch die drei südwestdeutschen Bischöfe haben am Prinzip der Unauflöslichkeit der Ehe nicht gerüttelt. Der Gegensatz liegt im Seelsorgerlichen. Lehmann, Saier und Kasper geht es um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit‑ (G. Facius, Die Welt).

Reaktionen der deutschen Kirche

Die Stimme des Volkes – sensus fidelium?

In einem Hirtenbrief hat der Klagenfurter Bischof Egon Kapellari seine Seelsorger aufgefordert, die "klagenden und anklagenden Stimmen" über das von der Glaubenskongregation bekräftigte Kommunionverbot für wiederverheiratete Geschiedene "anzuhören" und von der Enttäuschung der Wiederverheirateten "betroffen" zu sein.
Welche Bedeutung haben die Stimmen der Gläubigen, die in persönlichen Gesprächen, Unterschriftenaktionen und in zahlreichen Leserbriefen in der kirchlichen und außerkirchlichen Presse reagiert haben? Für die ganze Kirche gilt die biblische Verheißung, vom Heiligen Geist in die volle Wahrheit eingeführt zu werden. Unter der Perspektive dieser Verheißung bleibt eine Vielzahl von kirchlichen, amtlichen Lehraussagen vorläufig und bedarf ihrer Weiterentwicklung unter anderem auch dadurch, dass die Gläubigen diese Lehre rezipieren, und darin, in welcher Weise sie bei den Christen zur Geltung kommt.
Was für die kirchliche Lehre in Glaubensfragen gilt, gilt erst recht für die Normen kirchlicher Praxis. Da es hier um die Frage geht, ob und wie kirchliche Praxis gottesfürchtig und menschenfreundlich mit Fragen und Problemen der Christen in ihrer konkreten Lebenssituation umgeht, z. 8. mit den wiederverheirateten Geschiedenen und den mitbetroffenen, d.h. mit ihnen lebenden Christen, gehört zur pastoral‑theologischen Bewertung kirchlicher Handlungen und Handlungsnormierungen auch die Überlegung: Wie "kommen" diese bei den Menschen "an"? Wie werden sie ‑mit dem Herzen ‑ verstanden? Denn nur verstanden und bejaht können sie gewissenhaftes Handeln normieren. Jedes Handeln ist kommunikatives Handeln: Im Handeln selbst soll erkennbar und verstehbar sein, was der Handelnde mit seinem Handeln meint. Was ist aber, wenn das amtliche Handeln der Kirche, die sich ‑‑ ihrer Intention nach ‑ als barmherzige Mutter in fürsorgender Liebe den wiederverheirateten Christen zuwenden will, als diskriminierend, verletzend und bestrafend erlebt wird? Wenn statt Glaube, Liebe und Hoffnung also Trauer und Zorn wach werden, und Menschen (Erwachsene wie Kinder) an ihrem Glauben und ihrer Glaubensgemeinschaft irre werden?
Vielleicht ist es ja ein "Zeichen der Zeit", dass heute in vielen unserer Gemeinden für viele Christen das Ärgernis nicht mehr darin besteht, dass wiederverheiratete Geschiedene zur Kommunion gehen, sondern darin, dass sie amtlich nicht zugelassen werden.
Dieses Problem hat jedenfalls viele Menschen, Christen wie Nichtchristen, bewegt, sich in Leserbriefen zu äußern, und wir werden gut daran tun, die Stimmen der Menschen gewissenhaft zu registrieren. Dazu gehört auch die Tatsache, dass es dabei auch Äußerungen von Christen gibt, die schärfer als jeder Bischof den Kommunionausschluss der wiederverheirateten Geschiedenen verteidigen.
"Ist der Empfang der Eucharistie doch nur Belohnung für gehorsames Befolgen der Kirchengesetze und nicht Sakrament als Heilmittel nach dem Gesetz Christi?"
"Sakramente sind Heils‑ und Gnadenmittel. Es wäre absurd, sie gerade denen zu verweigern, die Lasten auf den Schultern' spüren."
"Wieder einmal geht Recht vor Gnade oder Barmherzigkeit, dabei hat sich Jesus in erster Linie mit Sündern und Gestrandeten der Gesellschaft abgegeben."
"Gewiss, die Eheschließung ist ein Sakrament, aber muss man nicht in jedem einzelnen Fall abwägen, wodurch es zum Bruch einer Ehe gekommen ist?"
"Was wird gerade in dieser so gottlosen Zeit aus der Institution Kirche, wenn es kein Verzeihen gibt?"
"Die Bischöfe haben ja die Aufgabe, Gottes Willen zu verkünden, sei es gelegen oder ungelegen. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass die Größe der Notlage und das Leid, das durch die Trennung entstand, bei dem verlassenen Ehepartner die Schuld bei Gott mindert." "Ich denke, ein Mensch, der geschieden ist, ist oft in der Tiefe seines Lebens verletzt. Vielleicht verliert er durch den Verlust eines Menschen auch den Gedanken an die ewige Liebe Gottes, weil er kein Abbild dieser Liebe mehr sichtbar hat. Nun findet dieser Mitchrist wieder Trost und Hoffnung bei einem anderen Menschen ... Wie können wir diesen Mitchristen verurteilen und aus unserer Gemeinschaft ausschließen? Gerade der, der gescheitert ist, braucht unsere Communio."
" Die Lieblosigkeit, die aus kirchenrechtlichem Denken heraus über den Wunsch der Teilhabe an der eucharistischen Gemeinschaft ein Anathema gesprochen hat, ist ein Ärgernis." " Ich meine, dass das Verlangen nach dem heiligen Sakrament und die demütige Einsicht, dass man sich selbst ausgeschlossen hat, zu einer tieferen Liebe zum Glauben und zur Kirche führt."
"Die Ursachen für Scheidung und Wiederverheiratung sind so Vielfältig, dass kein Außenstehender eine Entscheidung treffen kann. Jeder Katholik muss so mündig sein, dass er selbst entscheidet, ob er gewissenhaft und reumütig vorbereitet zu den Sakramenten gehen kann."
"Vielleicht sind es gerade die betroffenen Geschiedenen, die aus ihrer Situation heraus den Kontakt zu Gott ehrlicher suchen als die Menschen, die nie das Leid einer solchen Trennung durchleben mussten. Warum bitte sollen diese Leute überhaupt noch einen Gottesdienst besuchen, wenn ihnen der Bestandteil der Heiligen Messe überhaupt, nämlich der Empfang des Leibes Christi, verweigert wird."
"Wenn es bei den wiederverheirateten Geschiedenen eine Not gibt, dann haben sie diese selbst herbeigeführt ... Wie können sie die Stirn besitzen, vor Gottes Angesicht und an seinen Tisch zu treten?"
"Mütterliche Nähe der Kirche besteht für die Glaubenskongregation darin, zu ermahnen und die Lehre der Kirche in Erinnerung zu rufen. Wer so schreibt, zeigt wenig Ahnung vom Bemühen einer Mutter um ihr Kind gerade in schwieriger Lage. Mütterliche Nähe besteht darin, Vertrauen in das Kind zu legen und ihm Tür und Tor weit offen und den gemeinsamen Tisch bereit zu halten."

Die Reaktion deutscher Bischöfe

Eine erste und zentrale Reaktion auf die Intervention der Glaubenskongregation ist das Begleitschreiben der oberrheinischen Bischöfe an ihre Seelsorger. Dieses hat nicht nur geholfen, der öffentlichen Diskussion eine inhaltliche Basis zu geben und einer aus ohnmächtiger Sprachlosigkeit erwachsenden Radikalisierung kritischer Reaktionen vorzubeugen, es wurde auch für manchen Bischofskollegen zur Basis eigener Äußerungen.
So greift der Trierer Bischof, Hermann Josef Spital in seinem Schreiben an die Seelsorger zentrale Aussagen aus der Stellungnahme seiner Kollegen auf und schließt sich ausdrücklich ihrer Beurteilung an: "Ich beurteile die nun in meinem Bistum gegebene Situation ebenso wie die Mitbrüder der oberrheinischen Kirchenprovinz und wende mich deshalb an Sie alle mit der Bitte, die die genannten Bischöfe am Schluss ihres Schreibens an ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Seelsorge richten."(4)
Ähnlich verfahren die Bischöfe von Münster und Würzburg, Lettman und Scheele, beide zitieren am Schluss ihrer Erklärung den letzten Satz aus dem Schreiben ihrer oberrheinischen Kollegen: "Es wird eine bleibende Aufgabe sein, in Treue zur Botschaft Jesu und zum Glauben der Kirche wie in Solidarität mit den betroffenen Menschen, sowie in Gemeinschaft mit der ganzen Kirche nach verantwortbaren Lösungen im Einzelfall zu suchen."(5)
In einem ausführlichen Interview äußert sich der Münchner Kardinal Wetter: "Glaube und kirchliche Ordnung dürfen nicht auseinanderdividiert werden ... In der Bewertung ... müssen drei zentrale, wichtige gemeinsame Anliegen bedacht werden. Das ist einmal die Unauflöslichkeit des Ehebundes zwischen Getauften, der durch Christus selbst zur Würde eines Sakramentes erhoben wurde, sie darf im Bewusstsein der Gläubigen und damit in der Lebenspraxis nicht verloren gehen. Zweitens ist das Gewissen zu nennen, das nach einem Wort des Zweiten Vatikanum die verborgenste Mitte und das Heiligtum des Menschen ist, in dem er allein ist mit Gott. Es muss geformt und gebildet werden und darf nicht als Ausrede missbraucht werden. Drittens sollen diejenigen Christen, die als wiederverheiratete Geschiedene in der Kirche leben, sich nicht als getrennt von der Kirche sehen, sondern Seelsorger und Gemeinden sind zu aufmerksamer Zuwendung verpflichtet."(6) Unter der pastoralen Prämisse "Man darf nicht denen, die durch eine zerbrochene Ehe geschlagen sind, noch einmal neue Schläge zufügen‑ hält Kardinal Wetter in der Frage der Kommunionzulassung fest: "In der seelsorglichen Praxis können Probleme, etwa in der Frage des Kommunionempfangs wiederverheirateter Geschiedener, nur im Einzelfall nach Recht und Wahrheit geklärt werden. Dabei dürfen nicht nur Teilaspekte berücksichtigt werden. Das Ganze muss gesehen und einbezogen werden."(7)
Während der Eichstätter Bischof Braun seinen Seelsorgern einschärft, sich vorbehaltlos den lehramtlichen Weisungen zu öffnen, und der Augsburger Bischof Dammertz Verständnis für die römische Position zeigt, hat der Kölner Kardinal Meisner schon am Tage des Erscheinens der Erklärung der Glaubenskongregation bekräftigt, in der gegenwärtigen Verwirrung in dieser Frage sei eine Klarstellung durch das Lehramt ein Gebot der Stunde. Die Kirche wolle den wiederverheirateten Geschiedenen mit allen zu Gebote stehenden Mitteln helfen. "Dazu gehört jedoch nicht die Hl. Eucharistie."(8)
Der Bischof von Limburg, Franz Kamphaus. meldet sich mit einem vielbeachteten Artikel in der Süddeutschen Zeitung zu Wort(9). Er stellt dort vor allem bezüglich der Bedeutung des Gewissens kritische Rückfragen an die römische Erklärung und greift die Oikonomia‑Theologie der Ostkirche als Anregung für eine barmherzige Praxis in der katholischen Kirche auf.
Neben der Tatsache, dass eine ganze Reihe von Kirchenzeitungen ‑ als offiziöse Stimmen ihrer Bischöfe ‑ das Thema in den meisten Fällen offen und zum Teil erstaunlich kritisch aufgreifen, liegt eine beachtliche innerkirchliche Intervention darin, dass mehrere Kirchenzeitungen, die auf eigene Kommentare verzichten, an "prominenter‑ Stelle den KNA‑Beitrag des Sekretärs der deutschen Bischofskonferenz, Wilhelm Schätztler(10), nachdrucken, in dem sich dieser unter dem Titel "Roma locuta, causa non finita" kritisch‑konstruktiv mit der römischen Erklärung auseinandersetzt und die hohe Wertschätzung des persönlichen Gewissens als (ur)katholisch reklamiert.

Katholische Verbände und Gruppierungen

Auf vielen Ebenen ‑ regional, diözesan, bundesweit ‑ haben sich kirchliche Verbände in den innerkirchlichen Disput eingeschaltet, indem sie fast durchweg ihre Enttäuschung über die römische Intervention zum Ausdruck bringen und ihre Solidarität mit dem Anliegen der oberrheinischen Bischöfe erklären.(11)
Am 18. November meldet sich auch das bedeutendste deutsche Laiengremium zu Wort, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. In einer auf seiner Vollversammlung beschlossenen Erklärung (12) heißt es unter anderem: ‑.. Wir danken den Bischöfen dafür, dass sie auf ein Problem reagiert haben, das den Gemeinden und den der Kirche verbundenen Familien vielfach zu schaffen macht ... Mit ihrem Schreiben haben sich die Bischöfe auf eine Situation eingelassen, die viele Gemeinden und Familien aufs äußerste belastet. Sie haben den Versuch unternommen, die Treue zum Jesus‑Wort Was Gott verbunden hat, darf' der Mensch nicht trennen' zu verbinden mit der Treue zur vom selben Herrn gebotenen Barmherzigkeit ...
Das Jüngste Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre ... mit seinem kategorischen Nein zu sorgfältig erwogenem pastoralen Handeln im Einzelfall darf nicht das letzte Wort der Kirche bleiben ... Wir können aber nicht nachvollziehen, dass ein so hartes Nein zum Hinzutreten zur Kommunion ausgesprochen wird, das unserer Auffassung nach dem Auftrag des Herrn widerspricht, seine Kirche solle als Ort des Heils und der Heilung für die Welt erfahrbar sein. Wir sind erschrocken darüber, wie mit der alten katholischen Tradition von der Würde und Bedeutung des Gewissens umgegangen wird ..."

Worum es geht

Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wird die Stellung der wiederverheirateten Geschiedenen in der Kirche und die Frage ihrer Zulassung zum Kommunionempfang diskutiert, vor allem in den westlichen Gesellschaften, deren anspruchsvolle, auf personaler Liebe und persönlichem Wachstum basierenden "Ehemodelle" immer mit dem Risiko des Scheiterns behaftet sind.
Durch die mit dem Hirtenwort der oberrheinischen Bischöfe gegebene Intervention wurde ‑ ungewollt? eine breite gesamtkirchliche Diskussion ausgelöst, in die endlich ‑ alle Ebenen der Kirche einbezogen sind, und die sich offen und öffentlich vollzieht. Dabei geht es, wenn man die strittigen Punkte überblickt, im letzten ‑ wie ein Kommentator anmerkt ‑ um die Frage: Herrscht in der katholischen Kirche das Prinzip der Personalität oder das der Objektivität?
Auf der Handlungsebene der amtlichen Kirche stellt sich dabei die Frage: Wie wird die Kirche in der Anwendung ihrer Normen der komplexen Situation des einzelnen, seiner Not und seiner Begrenzung (zu können, was er soll und will) gerecht? Es geht also um "Gerechtigkeit und Barmherzigkeit".
Auf der Handlungsebene des einzelnen lautet die Frage: Bin ich aufgrund meiner subjektiven Gewissensüberzeugung im Frieden mit Gott und der Kirche, wenn ich ‑ abweichend von den Normen ‑ meine zweite Ehe als sittliche Realität bejahe und mich frei fühle, zum Tisch des Herrn hinzuzutreten? Hier geht es um den erforderlichen Respekt der kirchlichen Autorität vor der persönlichen Gewissensentscheidung.

Recht ‑ Gerechtigkeit ‑ Barmherzigkeit

Anliegen der oberrheinischen Bischöfe war und ist es, in ihren pastoralen Anweisungen der Tatsache Rechnung zu tragen, dass eine allgemeine Norm in ihrer Anwendung jeweils auf die konkrete Person und deren individuelle Situation bezogen werden muss, damit sie dem betreffenden Menschen gerecht wird. Wenn nach der Selbstfestlegung des kirchlichen Rechts das höchste Gesetz (als Prinzip der Anwendung) das Heil der Seelen ist, kann Recht nur geschehen in der angemessenen Anwendung, d.h. dann, wenn der einzelne als geschichtliches Subjekt in seiner Einmaligkeit und Begrenztheit, wenn die Komplexität seiner konkreten Lebenssituation gesehen wird.
So ist ja zum Beispiel eine Ehe als personale Lebensgemeinschaft kein einmaliger sittlicher Akt, in dem punktuell (im Eheabschluss z. B.) der Wille Gottes ein für allemal vollzogen würde, sondern ein lebenslanger komplexer Prozess, bestehend aus einer Vielzahl zusammenhängender Ereignisse, Handlungen, Haltungen, Versäumnisse usw. Jedes punktuell normative Denken muss hier versagen, und es kann sogar ‑ so W Schätzler ‑ das positive Recht im Einzelfall die Gerechtigkeit verletzen. Damit das Recht dem Menschen gerecht wird, bedarf es der Barmherzigkeit als heilsamer und gütiger Anwendung der Norm. Die oberrheinischen Bischöfe, wie auch Bischof Kamphaus, weisen darauf hin, dass das kanonische Recht sich das Prinzip der Barmherzigkeit unter dem Begriff der "Billigkeit" (aequitas canonica) prinzipiell immer schon zu eigen gemacht hat. In dieser Linie steht auch die Aussage von Papst Johannes Paul 11. in seinem Schreiben "Dives in misericordia", in dem es heißt, dass christlich nur von Gerechtigkeit gesprochen werden kann, wenn die Barmherzigkeit als Fundament der Gerechtigkeit gilt. In diesem Zusammenhang kommen verschiedene Autoren auf die Praxis der Ostkirche zu sprechen, die mit dem Prinzip der "Oikonomia" eine theologisch, rechtlich und spirituell fundierte Praxis der Barmherzigkeit im Umgang auch mit Wiederheirat entwickelt hat. So schreibt Bischof Kamphaus in seinem Beitrag: "Wer immer in Lehre und Verkündigung auf die von Rom getrennten Kirchen des Ostens hinweist (wie unlängst Papst Johannes Paul 11. in seinem Schreiben zur Frage der Frauenordination), wird nicht übersehen können, dass sie in ihrer pastoralen Praxis mit Geschiedenen und wiederverheirateten Geschiedenen ihre eigene geschmeidige' Tradition und Praxis haben. Dabei ist die Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe für sie ein äußerst hohes Gut ... Zugleich haben die Ostkirchen unter Berufung auf eine Vielzahl von Kirchenvätern nach dem Scheitern von Ehen mit Hinweis auf die Menschenfreundlichkeit Gottes Zweitehen gestattet.‑"(13)
Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, auf dem der melkitische Patriarch Zhogby auf die Praxis der "Oikonomia" als eine pastorale Möglichkeit für die katholische Kirche hinwies, taucht diese Frage immer wieder auf (z.B. auf der Bischofssynode 1980), sie wurde aber bisher kaum wirklich aufgegriffen"(14). Dass es an der Zeit ist, dies zu tun, macht auch der Hinweis von H.‑J. Lauter deutlich, der auf die ökumenische Dimension der Frage verweist: "Wie der orthodoxe Patriarch Athenagoras, der mit Papst Paul Vl. den ökumenischen Bruderkuss tauschte, wissen ließ, sei eine endgültige Aussöhnung der beiden Kirchen nicht denkbar, wenn Rom nicht überzeugend eine Billigung der Oikonomia, auch in Fragen der Geschiedenen, zum Ausdruck bringe."(15)

Objektive Norm ‑ Persönliches Gewissen

In der Frage des Respekts vor der persönlichen Gewissensentscheidung als möglicher "Begrenzung" der Reichweite objektiver Normen (im Konfliktfall) liegt der zentrale Punkt der Diskussion und des Dissenses mit der römischen Position. Viele Beiträge greifen diesen Aspekt auf. So schreibt W Schätzler lapidar: "Dem Gewissen der Gläubigen wird nicht, wie das Schreiben der Glaubenkongregation meint, eine unangemessene Macht' in solchen Einzelfällen zugesprochen, sondern es wird dem Gewissen nur die Rolle eingeräumt, die ihm nach kirchlicher Lehre zusteht."(16) Wer das Gewissen als schöpferische Instanz ernst nimmt, als einen ursprünglichen, mit der menschlichen Freiheit und Subjekthaftigkeit als Abbild Gottes gegebenen ganzheitlichen sensus für das Gute, wird im Gewissen mehr sehen als ein Ausführungsorgan objektiver Normen. Das Gewissen ist nicht ‑ so Bischof Lehmann in einem Interview ‑Rationalität, die Vorgegebenes anwendet.
Wie kann eine solche Gewissensentscheidung des einzelnen in unserem Falle aussehen?
‑ - Meine neue Lebenssituation in der neuen Ehe ist ein Gut: Hier lebe und erfahre ich personale Liebe und Hingabe; hier lebe ich Ehe mit aller sittlichen Verpflichtung und Konsequenz; hier erfahre ich Gott als Begleiter meiner Lebensgeschichte.
- Ich bin versöhnt mit der Geschichte meiner ersten Ehe: Ich kann das Gute dankbar sehen, ich sehe meine Schuld und meine Versäumnisse; ich verzeihe, wo ich verzeihen kann und lebe Umkehr im Neuanfang.

- Ich versuche, als Christ zu leben; ich lebe in der Mitte meiner Gemeinde; ich gebe meinen Glauben weiter an meine Kinder, ich bin mit mir und meinem Gott, der größer ist als mein Herz, das mich (immer wieder) anklagt, im Frieden.
‑ - Ich lebe im Vertrauen auf die barmherzige Liebe Gottes, der mir trotz und angesichts der Brüchigkeit meiner Lebensgeschichte gütig und heilend entgegenkommt und mich aufhebt zu neuem Leben. Die Liebe Gottes ist größer als die begrenzte Liebeskraft seiner Kirche, seine Freiheit ist größer als die Freiheit der Kirche, darum wage ich es, dem Ruf meiner Sehnsucht, in dem ich auch den Ruf der Sehnsucht Gottes vernehme, zu folgen und mich einzureihen in die Gemeinschaft am Tisch des Herrn.

Die Sehnsucht nach dem Empfang der Eucharistie

Es gibt doch so vieles, was wiederverheiratete Geschiedene in der Kirche "dürfen", es gibt so viele Möglichkeiten, sich als Glied der Gemeinde zu erleben. Warum also dieses Festhalten an der Frage der Zulassung zur Eucharistie?
Kaum ein theologischer Beitrag in der ganzen Diskussion geht auf dieses Bedürfnis nach der Eucharistie ein, geht der Frage nach: Inwiefern erleben die wiederverheirateten Geschiedenen den Ausschluss von der Eucharistie als Diskriminierung und Ausgrenzung?

Diese Frage anzusprechen blieb einer Vielzahl der Leserbriefe und ‑ interessanterweise ‑‑ den Kommentaren der Tagespresse vorbehalten, die ihren Lesern die Situation der Betroffenen verständlich machen wollten. Es scheint fast so, als ob von außen die Zeichen der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit in ihrer Symbolkraft manchmal deutlicher erspürt wurden als im innerkirchlichen Raum selbst.
Liegt hier nicht ein Hinweis vor, der theologisch sehr ernst zu nehmen ist?
Die erlösende Kraft der Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers (um eine Akzentuierung traditioneller Theologie aufzugreifen) besteht doch nicht in der Erlösung des einzelnen, sondern ist Erlösung in den Leib Christi hinein, führt zur Konstituierung des Leibes der Kirche. Dies ist die zentrale Wirkung der Vergegenwärtigung der Hingabe Jesu an den Vater und an die Menschheit. Im Mahl aber wird die kirchenstiftende Kraft des Kreuzesopfers vollzogen als zeichenhafte, erlösende Vereinigung der Mahlfeiernden in den einen Leib. So sagt Augustinus: "Euer Geheimnis ist auf den Altar gelegt: Seht, was ihr seid ‑ seid, was ihr seht. Empfanget den Leib Christi, seid der Leib Christi."
Ist es nicht doch so ‑ nicht nur im subjektiven Erleben der Betroffenen ‑, dass die Nichtzulassung zur Eucharistie eine "zeichenhafte" Exkommunikation bedeutet? Wer ausgeschlossen ist, ist vom zentralen Ereignis der Eucharistiefeier ausgeschlossen, nämlich davon, sich insofern erlöst zu "wissen", als er im Mahl in die Gemeinschaft der Erlösten zeichenhaft und real inkorporiert und in der Mahlgemeinschaft zugerüstet wird, Kirche zu sein.
Der Hinweis auf die geistliche Kommunion erscheint da problematisch, weil er in die Nähe eines "sakramentalen Doketismus" führt, der die Existenz der Kirche als sakramentales Zeichen berührt. P. M. Zulehner hat jüngst darauf hingewiesen, dass der Hinweis auf die geistliche Kommunion in Konsequenz bedeutet: "Ihr könnt Gemeinschaft mit Gott haben, aber die Kirche braucht ihr nicht dazu!"(17) Dies bedeute eine "Entkirchlichung des christlichen Lebens".

Das Gespräch geht weiter!

Die Auseinandersetzung mit dem Dokument der Glaubenskongregation und mit der Anregung der oberrheinischen Bischöfe hat bewirkt, dass das Gespräch in doppelter Weise weitergeht: Einmal wird das Gespräch auf vielen Ebenen weitergeführt werden (müssen), und viele, die bisher geschwiegen haben, Bischöfe, Priester oder Laien, sehen sich ermutigt oder auch gefordert, sich am Gespräch zu beteiligen. In diesem Ringen um Wahrheit und Barmherzigkeit werden auch die Betroffenen mehr als bisher einen Raum finden, in dem sie sich selbst artikulieren können und wo ihre Stimme hörbar wird.
Weiter geht das Gespräch aber auch, weil es längst über die Ebene eines pastoralen Pragmatismus hinausgegangen ist zu grundsätzlichen Fragen: Was heißt Ehe als Sakrament angesichts einer prozesshaften Ehewirklichkeit? Was ist mit der Theologie des unauflöslichen Ehebandes? Was wollte Jesus wirklich? Was bedeutet das "Wissen" vieler Gläubiger, ihr schöpferisches Gewissen für die Wahrheitsfindung in der Kirche?
Es ist wichtig, dass die kirchliche Diskussion sich nicht an prinzipiellen Fragen festbeißt und so pastorales Handeln lähmt; aber unerledigte prinzipielle Fragen tauchen in der Diskussion des Praktischen wieder auf und müssen bearbeitet werden.
So weist der Kirchenrechtler Matthäus Kaiser seit Jahren darauf hin, dass kirchliches Recht und kirchliche Normen im Blick auf die Ehe den Paradigmenwechsel von der "Ehe als Vertrag" zur "Ehe als Bund" längst noch nicht konsequent vollzogen haben, dass unter dem Firnis konziliarer personaler Ehetheologie noch vorkonziliar gehandelt wird."(18)
Dieses Weiterdenken der Hirten bis hin zu den einfachen Gläubigen kann nur gelingen, wenn geschieht, was Papst Johannes Paul 11. in Famillaris Consortio fordert: "Zur Erarbeitung einer echten evangelischen Unterscheidungsgabe in den verschiedenen Situationen und Kulturen, in denen Mann und Frau ihre Ehe und Familie leben, können und müssen die christlichen Eheleute und Eltern einen eigenen, unersetzlichen Beitrag leisten. Zu dieser Aufgabe befähigt sie das ihnen eigene Charisma, die ihnen eigene Gnadengabe, die sie im Sakrament der Ehe empfangen haben" (Nr. 5).

Anmerkungen

1 So konnte zum Beispiel eine in mehrjähriger Arbeit vom Sachausschuss Ehe und Familie des Diözesenrates der Katholiken im Erzbistum Köln erarbeitete Handreichung zur Pastoral an wiederverheirateten Geschiedenen aufgrund einer Intervention des damaligen Kölner Erzbischofs, Kardinal Höffner, nicht erscheinen.Auch eine auf der Basis der Einwände von Kardinal Höffner überarbeitete Fassung wollte nach dem Tod von Kardinal Höffner der Diözesanadministrator, Bischof Luthe, nicht akzeptieren. Der Sachausschuss musste sein Vorhaben aufgeben. Der damalige Vorsitzende des Sachausschusses, Prof. Rüberg, hat dann später als eigene Fortsetzung dieser Aktivitäten ein viel beachtetes Buch herausgegeben: Rudolf Rüberg, Nach Scheidung wieder verheiratet, Informationen ‑ Reflexionen ‑ Perspektiven, Kevelaer, Bornheim, Düsseldorf 1993.

2 Rede zur Eröffnung der 3. Sitzungsperiode des "Freiburger Diözesanforums" am 26.10.1992, in: Dokumentation zum Freiburger Diözesanforum, Heft 1, Freiburg o. J.

3 Arbeitsergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln.&xnbsp; Zusammenfassende Dokumentation der Voten, Köln 1994

4 In: Paulinus vom 23.10.1994.

5 Reinhard Lettmann, in: Kirche und Leben, Nr. 43&xnbsp; (30.10.1994).

6 In: KNA‑Interview vom 18.11.1994.

7 Ebd.

8 Nach KNA‑Informationsdienst, Nr. 42 (20.10.1994).

9 Franz Kamphaus, Wenn Ehen scheitern. Der vollständige&xnbsp; Beitrag ist abgedruckt auf S. 52.

10 KNA‑Dienst Aktueller Basisdienst "Am Wege der Zeit" Nr. 7 vom 15.10.1994; der vollständige Text ist abgedruckt auf S. 96.

11 Z. B.: Familienbund der Katholiken im Erzbistum Köln, Diözesanrat der Katholiken im Erzbistum Freiburg, kfd Rottenburg, Dekanekonferenz Rottenburg, Zentralversammlung des Kolpingwerks, Zentraler Familienrat des Familienbundes der Deutschen Katholiken, Hauptausschuss und Präsidium der kfd.

12 Der vollständige Text ist abgedruckt auf S. 99.

13 Franz Kamphaus, Wenn Ehen scheitern, siehe S. 52.

14 Ausnahmen sind Bernhard Hering, Ausweglos", Freiburg 1989 und Rudolf Rüberg, siehe Anm. 1.

15 Siehe den Beitrag des Autors S. 56.

16 Siehe Anm. 10 und S. 97f.

17 In einem Vortrag in Köln am 21.11.1994.

18 Ein Beispiel ist die Forderung, "Wie Bruder und Schwester" zusammenzuleben, als Voraussetzung für den Kommunionempfang von wiederverheirateten Geschiedenen. Diese Forderung kann nur Sinn machen, wenn die Ehe als Vertrag verstanden wird, der das ius in corpus" überträgt, und deshalb eine (neue) volle Lebens‑ und Liebesgemeinschaft nur dann rechtlich relevant wird, wenn in ihr unrechtmäßig das dem früheren Ehepartner allein zustehende ius in corpus" übertragen wird, d. h. die Partner sexuell verkehren. Was in dieser Art rechtlichen Denkens logisch sein mag, erscheint menschlich absurd und ist theologisch und anthropologisch fragwürdig.

Dokumentation

Die Bischöfe der Oberrheinischen Kirchenprovinz:

Zur seelsorglichen Begleitung von Menschen aus zerbrochenen Ehen, Geschiedenen und Wiederverheirateten Geschiedenen : Hirtenwort. Freiburg/Br. u. a.: (10.07.) 1993.
Gemeinsames Hirtenschreiben der Bischöfe der Oberrheinischen Kirchenprovinz zur Pastoral mit Geschiedenen und Wiederverheirateten Geschiedenen
Download

Grundsätze für eine seelsorgliche Begleitung von Menschen aus zerbrochenen Ehen und von Wiederverheirateten Geschiedenen in der Oberrheinischen Kirchenprovinz, Juli 1993
Download

KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE:
SCHREIBEN AN DIE BISCHÖFE DER KATHOLISCHEN KIRCHE
ÜBER DEN KOMMUNIONEMPFANG VON WIEDERVERHEIRATETEN GESCHIEDENEN GLÄUBIGEN
Link

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